Zu seinem zehnjährigen Jubiläum feiert das Franz Marc Museum in Kochel am See mit einer »Lektüre«- Ausstellung das Lesen und die Lesekunst in Malerei, Fotografie und Literatur.

Pablo Picasso: »La Lecture«| 1953 | Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Museum Berggruen | © bpk / Nationalgalerie, SMB, Museum Berggruen / Foto: Jens Ziehe

1809 ging die »Lesesucht« in das »Wörterbuch der deutschen Sprache« ein: »die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen«. Das in seiner stärksten Ausprägung auch »Lesewut« genannte Phänomen beträfe vornehmlich »unsere Weiber«, so Herausgeber Joachim Heinrich Campe. Tatsächlich sieht man beim Rundgang durchs Franz Marc Museum mehrheitlich Frauen, die ihre Häupter über Bücher beugen, die unterrepräsentierten Männer halten sich eher an Zeitungen und wirken weniger vertieft – auf den Leinwänden, versteht sich.

»Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder« heißt die von Cathrin Klingsöhr-Leroy zum zehnjährigen Jubiläum kuratierte Ausstellung. Wie bereits andere zuvor sei diese nicht dezidiert Franz Marc gewidmet, erklärt die Museumsdirektorin, sondern stelle sein Werk in den Kontext der Kunst des 20. Jahrhunderts. Wobei der Zeitraum gedehnt wurde: Das früheste Exponat von Jean-Etienne Liotard zeigt eine lesende Frau auf einem Sofa. »La Vertu«, die Tugend, ist auf der linken Buchseite zu entziffern – und so lässt sich das Gemälde von 1784/92 auch als Kommentar zur damals neuen »Sucht« lesen.

Das jüngste Werk stammt von Tacita Dean: »The Book End of Time« (2013), die großformatige Fotografie eines mit feinsten Kristallen übersäten, versteinert anmutenden Objekts. Dafür versenkte die Künstlerin einen Erzählband von J. G. Ballard in einer Saline in Utah. Als sie ihn sechs Wochen später herausfischte, hatte sich die Dutzendware Buch in ein schillerndes, jedoch unbrauchbares Unikat verwandelt: »Ins Unlesbare auskristallisiert, spricht es Bände«, heißt es im ebenso aufschlussreichen wie schön gestalteten Katalog.

Von der Sorge einer aufkommenden Sucht zur Angst ums Kulturgut Buch: Zwischen diesen Polen blättert sich die Ausstellung auf – wobei die Leselust klar überwiegt. Als zentrales, titelgebendes Werk fungiert »Die Lektüre« von Pablo Picasso. 1953 porträtierte er seine lesende Lebensgefährtin Françoise Gilot und ließ über dem Buch neben ihrem weißen Profil noch ein blaues Antlitz aufscheinen. Dieses »zweite Gesicht« symbolisiert das Neue, das intensive Lektüre hervorbringt. Verbalisiert hat es Rainer Maria Rilke in »Der Leser«, das Gedicht hängt neben dem Gemälde: »Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht / wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, / das nur das schnelle Wenden voller Seiten / manchmal gewaltsam unterbricht?«

Es ist wohl nicht zuletzt dieser schöpferische Aspekt, der Künstler wie August Renoir, Erich Heckel, Emil Nolde, Max Beckmann, August Macke sowie Franz Marc dazu inspirierte, immer wieder Lesende zu malen. Sie entdeckten in ihnen ein Alter Ego, das genau wie sie Neues schafft. Da nehme man auch hin, dass es im Grunde »unpraktische Motive« seien, so Klingsöhr-Leroy, »weil die Dargestellten wegsehen«. Dieses Problem kannten Cy Twombly und Paul Klee nicht: Einige ihrer Werke stehen stellvertretend für die assoziierte Frage, ob und wie sich Bilder lesen lassen. So hinterfragte Klee in »Alphabet WE« (1938) die bestehende Buchstabenordnung oder integrierte in »Zeichen verdichten sich« (1932) eigene, nicht entzifferbare Symbole.

Dass die kunsthistorischen Erläuterungen durch Schriftstellerreflexionen ergänzt werden, verleiht der sorgsam konzipierten Ausstellung eine weitere Dimension. Marcel Prousts Essay »Tage des Lesens« ist als Originalmanuskript zu sehen, und Rainer Maria Rilkes Text über die »Bibliothèque Nationale« flankiert Candida Höfers Bibliotheks-Fotoserie. »Was ist Literatur?«, fragt Jean-Paul Sartre, und Kurt Tucholsky weiß, wo wir unsere Bücher lesen. Wem es nach diesem anregenden Kunstgenuss genau danach gelüstet, macht noch einen Abstecher an den nahe gelegenen Kochelsee. Hier kann man sich im Sinne Tucholskys auf Schönste in den Katalog versenken: »Manche Menschen lesen Bücher in einem Boot oder auf ihrem eigenen Bauch, auf einer grünen Wiese. Besonders um diese Jahreszeit.« ||

LEKTÜRE. BILDER VOM LESEN – VOM LESEN DER BILDER
Franz Marc Museum| Franz-Marc-Park 8-10, 82431 Kochel am See | bis 23. September| Di bis So 10–18 Uhr | Tag der offenen Tür: 16. Sept., Lesung mit Jovita Dermota (11–12 Uhr, auch 23. Sept.) | Tagung »Lektüre – Bilder – Lesen» in Kooperation mit der evangelischen Akademie in Tutzing: 14.–16. Sept. | Der Katalog (Schirmer Mosel, 172 S.) mit allen Werken und aufschlussreichen Essays kostet im Museum 29,80 Euro

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