In einer dokumentarischen Hommage fängt Wim Wenders Anselm Kiefers phantastische Welten ein.

Anselm – Das Rauschen der Zeit

Zwischen Himmel und Erde

anselm

Eine der Braut-Skulpturen, die Anselm Kiefer weiblichen Mythenfiguren gewidmet hat – aus Wim Wenders’ »Anselm« | © 2023 Road Movies, Foto: Wim Wenders

Ja, das genau liegt in der Luft, wenn man im Sommer nach La Ribaute kommt: Zikadengezirpe, Vogelgezwitscher, Wind, der durch die Bäume raschelt. Das ist laut, weil es sonst in der Julihitze nicht so viele Geräusche gibt. Damit fängt der Film an, mit einer der Braut-Skulpturen, die Anselm Kiefer in großer Zahl für die vergessenen Frauen der Mythologien geschaffen hat, Circe, Poppea, Kalypso, Octavia und viele mehr, und die den Besucher von La Ribaute, nördlich von Nîmes in Südfrankreich, im Innenhof der ehemaligen Seidenfabrik empfangen und auf dem Areal immer wieder auftauchen wie stumme Bewohnerinnen. Die Fabrik hat Anselm Kiefer 1992 erworben, umgeben von 42 Hektar Grund. Dieses Gelände, das Kiefer als faszinierenden In- und Outdoor-Kunstraum bespielt und wo er Ideen von Leben, Tod und Ewigkeit, Farbe, Form und Fläche realisiert, ist seit 2022 öffentlich zugänglich. Die über dreistündige, von Kunst-Guides kundig geführte Wanderung über Wiesenwege, durch unterirdische Räume und Tunnel, Säulenhallen und theaterartige Tempel, Gewächshäuser und unzählige Kunst-Garagen sollte man sich keinesfalls entgehen lassen, wenn man ein Faible für die surreale, massiv dramatische Aufladung von Landschaft als Bühne hat.

Anselm Kiefer verwandelt Land in Kunst und weiße Leinwand in Landschaften. Das zeigt Wim Wenders in seinem neuen Film, der im Gegensatz zum verkünstelten »Pina« bei weitem gelungener ist. Die Befürchtung, man könne Zeuge der Begegnung zweier eitler älterer Herren werden, bewahrheitet sich glücklicherweise nicht. Wenders überlässt sich Kiefer und dessen Werk, beobachtet ihn bei der Arbeit, zeichnet Stationen nach, von seiner riesigen Kunstfabrikhalle in Croissy bei Paris ins ausgebrannte Nachkriegsdeutschland, nach La Ribaute und nach Hornbach im Odenwald. Er legt Atelier-Reportage, Scherenschnitte, historische Filmsequenzen und Spielszenen über- und nebeneinander, bei denen die Söhne von Kiefer und Wenders den Künstler als jungen Mann und als Kind darstellen und den Eindruck zementieren, dass Wenders sich Kiefer auf mehreren Ebenen verwandtschaftlich verbunden fühlt. Die ästhetische, collagenhafte Anmutung erinnert in vielen Momenten an »Der Himmel über Berlin«, auch im Schaffen Kiefers spielen riesige Flügel eine Rolle, Ikarus-Metaphern, biblische Figuren wie die Engel Gabriel, Uriel und Raphael.

Kiefer arbeitet zwischen Himmel und Erde, verdichtet Blei und Blumen zu Poesie, die sich aus der Lyrik von Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Andrea Emo und manch anderen speist. Zimmerfluchten, Dachstühle, umgedrehte Räume und Perspektiven beherrschen die Szenen, und man versteht Kiefers Satz, er brauche Platz, um »die offene Wunde der deutschen Geschichte« zu bearbeiten. Das Nachkriegskind malt zerstörte Häuser, die er als Erwachsener und Meisterschüler von Beuys nachbaut und dabei nach einer mystischen Ordnung forscht: »Wenn Chaos von rechteckigen Rahmen umgeben ist, wird daraus ein Bild«, wie er sagt, und »man kann doch eine Landschaft nicht einfach malen, wenn Panzer durchgefahren sind«. Seine Arbeiten sind dreidimensionale Welten, die mahnen, erschüttern, erschrecken und in ihrer kompromisslosen Anmut immer auch verzaubern. Wim Wenders fängt das ein, zurückhaltend und kunstfertig. Die am Kitsch entlangschrammende musikalische Dekoration hätte es in der Üppigkeit nicht gebraucht, und dass der Film in 3-D ins Kino kommt, ist eine Spielerei. Auch zweidimensional erfährt man überzeugend, dass man keine Kiefer-Ausstellung mehr verpassen sollte. ||

ANSELM – DAS RAUSCHEN DER ZEIT
Dokumentarfilm | Regie: Wim Wenders | Mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders | 93 Minuten | Kinostart: 12. Okt. | Website

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