Matthias Glasner balanciert mit »Sterben« drei Stunden in schwindelerregender Höhe und stürzt nicht ab. Es geht um nichts weniger als ums Leben.

Sterben

Die Fähigkeit zu Trauern

sterben

Lars Eidinger als Tom | © Jakub Bejnarowicz | Port au Prince, Schwarzweiss, Senator 2024

Das Kind, das den Prolog spricht, nimmt nicht alles vorweg, was in den nächsten drei Stunden passieren wird, aber die Zusammenfassung zeichnet sich schon ab: »Du musst auf deine Natur hören! Du musst an dein Herz glauben!«, spricht das Mädchen eindringlich, sehr ernsthaft-altklug, fordernd in die Kamera. Man weiß nicht, was das soll. Aber wie es so ist, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit, und mit dieser wirft Regisseur Matthias Glasner auf ganzer Strecke unerschrocken um sich. Mit dem Effekt, dass man als Zuschauer dranbleibt und staunt, wie dieser Geschichtenfächer in fünf Kapiteln nie langweilig oder unglaubwürdig wird.

Das ganze Leben ist den Tod bauen, das wusste nicht nur Milan Kundera in »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Die alte Lissy Lunies (grandios: Corinna Harfouch, gnadenlos unverstellt als Greisin) und ihr Mann Gerd (herzzerreißend: Hans-Uwe Bauer) sind an einem Ende angelangt, das glanzloser nicht sein könnte. Tom (Lars Eidinger), ihr Sohn, Dirigent, hat nie Zeit für seine Eltern, weil sie sich abhandengekommen sind, und gleichzeitig ist er – trotz seiner sandgestrahlten Mutter – alles andere als beziehungsunfähig. Vielmehr
verschwendet er sich an Menschen, wenn auch auf spröde Art. Seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ist Alkoholikerin, hat den Boden unter den Füßen und den Kontakt zu ihrer Familie schon längst verloren und klammert sich eine Weile sinnlos an den Zahnarzt Bastian (Ronald Zehrfeld).

Nach der Familienvorstellung kommt das Kapitel, das Glasner »Der schmale Grat« nennt. Es geht um den Grat zwischen Gefühl und Wirklichkeit, zwischen Kitsch und Wahrhaftigkeit,und diese Sequenz ist Erzählung und Metaebene zugleich. Glasner nimmt eine Innen- und Außenperspektive gleichzeitig ein und macht den Umgang mit Tod und Trauer völlig unsentimental zum zentralen, lebensspendenden Motiv. Er erzählt so geradeheraus, dass man keinen Moment lang an seiner Glaubwürdigkeit zweifelt. Dafür wurde er völlig zu Recht bei der Berlinale im Februar gefeiert und mit »Sterben« neun Mal für den Deutschen Filmpreis nominiert, der am 3. Mai verliehen wird. Der Film beschönigt nichts, ist nie anbiedernd versöhnlich, sondern zeigt sein Personal so, wie man es im normalen Leben oft einfach nicht wahrhaben will: Die alte Mutter ist eine kalte Person, der offenbar jede Empathiefähigkeit abhandengekommen ist. Dabei war sie es, die Tom zur Musik gebracht hat. Und Gerd, sein Vater, war nicht nur der biedere Angestellte, sondern hat gemalt, am Schluss gleich direkt auf die Wohnzimmerwand. Während Ellen eine wunderbare Stimme hat, der alle lauschen, wenn sie singt, sogar in der Absturzkneipe. Irgendwas war in dieser Familie vorhanden, das verschüttgegangen ist.

Man ahnt, dass die Mitglieder dieser Familie sich mal wirklich nahe sein wollten, aber irgendwo haben alle unterwegs die Verbindung verloren. Toms Freundschaft mit dem Komponisten Bernard (exaltiert erschöpft: Robert Gwisdek) ist eine existenzielle Kraftprobe mit zwingend logischem Ausgang. Die Diskussion des künstlerischen Unvermögens, die Verzweiflung über die Unfertigkeit eines Werks, die Not, den Uraufführungstermin verschieben zu müssen, die Überzeugung, nichts und niemandem zu genügen, all diese typischen Konfliktmomente bringen Lars Eidinger und Robert Gwisdek zutiefst überzeugend auf die Leinwand. Toms Beziehung zu seiner Ex-Freundin Liv, seine Freundschaft plus mit der Kollegin, die Kinder, die geboren werden, eine Generation, die ohne Halt stirbt, eine junge Frau, die auf ihrem eigenen schmalen Grat durchs Leben schlingert, all diese Einzelpfade werden zu einem Weg, der dann doch ein gemeinsames Ziel hat: die Uraufführung des Musikwerks mit dem Titel »Sterben«, und zwar in einer Form, die sich von allem trennt, was sich während der Proben als unwesentlich herauskristallisiert hat.

»Kill your darlings« ist eine kostbare Fähigkeit, die viele Künstler nicht entwickeln, obwohl sie jede Dramaturgie immer nur bereichert. Man darf annehmen, dass Matthias Glasner viele seiner Lieblingsmomente in diesem Film-Opus gekillt hat, um dem Wesentlichen Platz zu machen. Man stellt sich vor, wie schmerzhaft dieser Prozess wohl war. Mit einem wesentlichen Ergebnis, das sich von der Verführung zum Kitsch und von unehrlicher Rührseligkeit komplett befreit hat. Bei Lissys Beerdigung hat Tom sein Schreikind auf dem Arm. Eins mehr auf der Welt, das lieben lernt, weil es trauern darf. ||

STERBEN
Deutschland 2024 | Buch & Regie: Matthias Glasner | Mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek, Anna Bederke, Hans-Uwe Bauer, Saskia Rosendahl, Nico Holonics u. a. | 180 Minuten | Kinostart: 25. April | Website

Weitere Filmkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: