Lars Eidinger spielt Lars Eidinger: Reiner Holzemer begleitet den Schauspieler hinter den Kulissen.

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

Mit offenem Visier

lars eidinger

Edith Clever und Lars Eidinger bei den Proben zu »Jedermann« | © Reiner Holzemer Film

Es kränkt ihn, wenn er kritisiert wird. Es verletzt ihn, wenn Kritik fahrlässig formuliert ist. Das ist, als würde man ein Gerät unsachgemäß benutzen, und sich dann wundern, wenn es explodiert, verkokelt, kaputtgeht. So ungefähr muss man sich wohl den Schauspieler Lars Eidinger vorstellen, den man schon so oft gesehen hat im Film, seltener im Theater, wobei man sich oft schon leicht entnervt fragte, warum dieser Mann einfach immer Lars Eidinger spielt.

Eine sehr gelungene Annäherung an diesen Jahrhundertschauspieler ist nun dem Dokumentarfilmer Reiner Holzemer gelungen. Er schaut Eidinger bei den Proben zum »Jedermann« in Salzburg 2021 zu, er lauscht ihm beim Telefonieren. Holzemer fragt, Eidinger antwortet, Isabelle Huppert und Juliette Binoche schwärmen von seinem Blick, seiner Präsenz, seiner Präzision. Und am Ende versteht man: Lars Eidinger spielt nicht den Jedermann oder den Hamlet oder den Geliebten von Isabelle Huppert oder Juliette Binoche. Sondern umgekehrt: Hamlet, Jedermann und die Partner großer Filmfiguren werden zu Lars Eidinger. Erst im Spiel wird er er selbst, stellt Eidinger fest. Sein oder Nichtsein, Spielen oder Totsein, darin liegt der unverwechselbare Zauber dieses Theatergeräts, das so lange funktioniert, wie man ihm die entsprechende Behandlung zuteilwerden lässt: ungeteilte Aufmerksamkeit, Geduld, viel Zeit, Bewunderung, Respekt, noch mehr Verständnis.

Es ist offenbar nicht leicht, mit ihm zu arbeiten, das erlebt man als stiller Zeuge bei den Proben (und hier wächst umso mehr die Bewunderung für Reiner Holzemer, der ein solches Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, dass er sogar bei den intimen Arbeiten zum »Jedermann« drehen durfte). Aber sogar jemand wie Eidinger findet seine Meisterin, das zeigt Holzemer glücklicherweise auch: wie Verena Altenberger (sie spielte die Buhlschaft) nicht ohne Schalk erklärt, dass sich alles in den Proben, wirklich alles, »auf Lars fokussiert – bis Edith kommt«. Edith, das ist die große, inzwischen 82-jährige Edith Clever, die den Tod spielt und nicht nur dem Jedermann, sondern auch Lars Eidinger die Stirn bietet. Mit welcher Grandezza sie das tut, und wie er ihr nachgibt, wie er vor ihr kapituliert, ist ein wunderbarer Moment für alle, die das Theater als verdichteten Weltraum lieben.

Lars Eidinger ist komplett durchlässig für die Rollen, die er spielt. Beim »Jedermann« gibt es eine Probensituation, in der er plötzlich verstummt und zu weinen beginnt. Es ist vor allem ergreifend, wie die Kollegen reagieren: ratlos, betroffen, ungeschützt, man sieht, wie manchen die Mimik entgleist, und man ertappt sich, im Kinosessel sitzend, wie man selbst einen großen Kloß im Hals bekommt – erstaunlich, wie sogar auf der Metaebene der Dokumentation diese Unmittelbarkeit funktioniert. Über seinen sternstundenhaften Hamlet, den er seit 2008 in Thomas Ostermeiers Regie an der Berliner Schaubühne spielt, sagt er: »Für mich als Schauspieler galt immer: ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen, den Hamlet spielen.«

Als Theaterberserker zwingt er das Publikum, jeden Hamlet vorher zu vergessen und dem Eidinger-Hamlet widerstandslos zu folgen, und gleichzeitig zwingt er seine Mitspieler, wach zu bleiben bis zuletzt, weil niemand neben ihm sicher sein kann, was ihm als Nächstes einfällt: »Mein Trick ist, meinen geheimnisvollen Endspurt an einem Punkt anzusetzen, wo keiner damit rechnet.« Dasselbe gilt auch für seinen Richard III., ebenfalls an der Schaubühne, ebenfalls immer ausverkauft. Er sagt: »Ich nehme alles aus dem Partner, aus dem Gegenüber.« Was seine Mitspieler dafür von ihm bekommen: totale Aufmerksamkeit. Mit Eidinger auf Augenhöhe spielen, heißt das Visier herunterklappen, so wie er es tut. Bei vollem Risiko. ||

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN
Deutschland 2022 | Regie: Reiner Holzemer
Mit: Lars Eidinger, Juliette Binoche, Isabelle Huppert, Verena Altenberger | 93 Minuten
Dokumentarfilm | Kinostart: 23. März | Website

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