Steven Spielberg erzählt in »Die Fabelmans« von der Magie des Kinos und vom eigenen Erwachsenwerden.

Die Fabelmans

Mythen der Kindheit

fabelmans

Michelle Williams ist für ihre Rolle der Mutter Mitzi Schildkraut-Fabelman für den Oscar nominiert © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved

Die Idee für Steven Spielbergs neuen Kinofilm »Die Fabelmans« entstand bereits vor beinahe 20 Jahren am Filmset seines Actionthrillers »München«, so berichten es der Regisseur und sein damaliger Drehbuchautor Tony Kushner. Es war während der Vorbereitung einer Bombenszene, bei der das Set in die Luft gejagt wurde, als Kushner den Regisseur fragte: »Wannhast du beschlossen, Filmregisseur zu werden?« Spielberg entgegnete: »Ich verrate dir ein Geheimnis.« Er begann, so Kushner, in diesem Moment mit der Erzählung, die etwa zwei Jahrzehnte später zu Spielbergs persönlichstem Kinofilm werden sollte – die besagten »Fabelmans«.

Im Zentrum der Erzählung stehen der junge Sam Fabelman und seine unbedingte Liebe zum Kino, die wie bei so vielen Cineasten mit einem Schockerlebnis beginnt. Es sind die Einstellungen eines Zugunglücks in Cecile B. DeMilles »The Greatest Show on Earth«, die Sam im Jahr 1952 nicht mehr loslassen und bis in den Schlaf hinein verfolgen. Aus dem traumatischen Erleben des Jungen formt sich bald schon die große Passion seines Lebens.

Als Sam seine erste Handkamera geschenkt bekommt, ist es gänzlich um den Heranwachsenden geschehen – fortan brennt er nur mehr für die gebannte kinetische Kraft der Bilder. Die kinematografische Nachahmung seiner Vorbilder wie John Ford und seiner Filme »The Man Who Shot Liberty Valance« und »The Black Falcon« sind weit mehr als nur Kinderspiele, für die der Junge seine drei Schwestern und seinen Freundeskreis einspannt. Es sind die ersten Gehversuche beim Erlernen der filmischen Grammatik, zu der sich zur Begeisterung von Sams Ingenieursvater (Paul Dano) ebenso ein technisches Verständnis gesellt, das den Jungen auf patente Einfälle bringt. Für die eindrucksvolle Darstellung von Pistolenschüssen etwa perforiert Sam den Film an der entscheidenden Stelle, damit das Licht des Projektors durchdringt – ein Rieseneffekt, den Sam erkennt, als er in die Gesichter seiner noch überschaubaren Zuschauer:innenschar blickt.

Die junge Familie verschlägt es von New Jersey aus zunächst nach Arizona, wo der liebenswerte Vater Burt einen Job als Software-Engineer ergattert, schließlich an die Westküste nach Kalifornien. Mit im Gepäck stets der tragisch-komische »Freund der Familie«, »Onkel Bennie«, herzlich-tölpelhaft gespielt von Seth Rogen. Beim Sichten des Filmmaterials eines Campingtrips der Familie offenbart sich Sam, was es mit ihm in Wirklichkeit auf sich hat. Auf unfreiwillige Weise lernt er dabei, was es bedeutet, seine Eltern frühzeitig als eigenständige Persönlichkeiten wahrzunehmen und nicht lediglich als Versorger:innen der Nachkommenschaft. Für den Jungen ist es eine Entdeckung mit Folgen. Die Entscheidung seiner Mutter (ungeheuer intensiv: Michelle Williams), ausgelöst durch Sams Filmaufnahmen, hat einschneidende Folgen für die junge Familie.

Steven Spielberg widmet sich in seinem neuesten Kinofilm einmal mehr der unwahrscheinlichen Anziehungskraft der Mythen der Kindheit und des frühen Erwachsenwerdens. Anders als in seinen Filmen »E.T.«, »Jurassic Park« oder »A.I.«, wo er sie fantasievoll verarbeitete, widmet er sich ihnen in »Die Fabelmans« aber direkter, unverstellter, roher. Die bittersüße Melancholie der Unwiederbringlichkeit der Dinge wird aber auch jäh unterbrochen: Spielberg beschäftigt sich in seinem autobiografischen Film ebenso mit dem Übel des Antisemitismus.

Nach seiner Auseinandersetzung mit der Schoa in »Schindlers Liste« und den Folgen des Palästinenserterrors 1972 bei den Olympischen Spielen in »München« zeigt er in »Die Fabelmans« den Judenhass inmitten der amerikanischen Vorstadtwelt. Denn richtig schlimm wird es für Sam mit dem Umzug der Familie nach Kalifornien. Die beliebten Jungs der Schule zeigen sich hier nicht nur in bewährter Manier als Mädchenschwärme und Sportasse, sondern auch als widerliche Antisemiten, die Sam in den Pausen auf dem Schulhof traktieren. Man merkt diesen beklemmenden Szenen Spielbergs Schmerz bis heute an. Und auch seine Genugtuung, als es nämlich zu einem frühen cineastischen Showdown in Sams Regiekarriere kommt. Seinen Häscher stellt der Junge in einem Film über eine Klassenfahrt gnadenlos bloß. Der Heranwachsende wird sich hier der unwahrscheinlichen Macht der Bilder bewusst, und einmal mehr überwindet Sam, das Alter Ego Spielbergs, ein Trauma, indem er am Schneidetisch sukzessive Kontrolle über das Geschehene erlangt.

Mit »Die Fabelmans« gelingt Steven Spielberg eine Hommage an die Magie des Kinos sowie ein Geständnis- und Gedächtnisfilm über das niemals abgeschlossene Erwachsenwerden, der an Federico Fellinis »Amarcord«, François Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn« und an Louis Malles »Auf Wiedersehen, Kinder« erinnert. Von der herrlichen Schlussszene des Films sei an dieser Stelle nichts verraten, nur so viel: Bei der kurzen Begegnung mit Sams größtem Kinoidol haben auch wir Zuschauer:innen die einmalige Gelegenheit, mehr zu lernen als in ganzen Semestern auf der Filmhochschule. ||

DIE FABELMANS
USA 2022 | Regie: Steven Spielberg | Buch: Tony Kushner, Steven Spielberg | Mit: Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen | 151 Minuten | Spielfilm | Kinostart: 9. März | Website

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