Orte mit verheißungsvollen Namen, Touren durch Lokale, Szenen, die man suchte oder mied, Namen, die aufblühten oder verwelkten: Die Münchner Nacht war in den 80er und 90er Jahren Wohnzimmer und Wildnis zugleich. Verdammt lang her. Nur die Bäckerei am Viktualienmarkt existiert noch, auch wenn Schmalznudeln tagsüber einfach anders schmecken.
Rein in die Nacht, raus aus der Nacht
Die Nacht – auch wenn sie angeblich uns gehörte – war in den 80er Jahren, als München noch ungestraft den Titel »heimliche Hauptstadt« tragen konnte, gar nicht vorhanden. Und wenn es sie doch gab, war sie ein technisch-logistisches Problem. Um ein Uhr schlossen fast alle Kneipen. Dieser spießig protestantische Nachkriegszustand, jene faktische Ausgangssperre, die in Berlin damals und heute überall unvorstellbar ist, dauerte in der Landeshauptstadt bis Ende der 90er Jahre. So konnte naturgemäß hier kein Techno entstehen.
Man machte sich dennoch nie vor 10 oder 11 p.m. auf den Weg. Auch nicht, wenn das Ziel die Nacht war … von der wir erst heute wissen, dass wir sie damals hin und wieder mit Freddy Mercury verbracht haben, der damals am Sebastiansplatz wohnte und dessen Gesang wir schon zu jener Zeit natürlich nicht ertragen konnten. Ebenso wenig wie die damals schon alten Herren von Led Zeppelin, die wie die Stones ausgerechnet nach München kamen, um hier ihre unzeitgemäßen Platten aufzunehmen und angeblich manchmal in unseren Kneipen rumstanden als wären sie unsere Eltern. Das Ziel war klar, der Weg auch: Seit in der Mitte des Jahrzehnts das Baader Café eröffnet wurde, traf man sich dort und nur dort. Es gab damals keine Kneipe wie diese und wie heute alle sind. Innerhalb des Cafés, das damals die Rezeption zur Nacht darstellte, waren die Fronten klar. Es gab die Lokalmatadoren von Fortuna Falsche Freunde (heute eine Facebook-Gruppe), die lautesten am Tresen, deren Pokale vom alljährlichen »Baader Cup« über der Bar standen.
Da gab es den Herrn Diener, der sein Fanzine »59 to 1« (später selbst ein Münchner Clubname) herausgab und jede Nacht wieder von nichts anderem als der Genialität der Band »The Fall« sprach. Über ihn wurde gerne in der Kolumne der »Falschen Freunde« geschrieben, die vorgab eine Szene-Tratsch-Kolumne zu sein, aber immer nur über dasselbe Dutzend unbekannter Menschen schrieb, das hier am Tresen stand (und heute zumeist eher berühmt ist in dieser Republik).
Zu dieser Zeit entstand das komische München-Ding von drinnen und draußen. Hier war man definitiv drin, fühlte sich aber selten so: »Als ein solcher Draußensteher gehe ich seither in der Szene herum, und bin so in ihr logisch drinner denn je.« (Zum Autor dieses Satzes gleich mehr.) Wir standen nie bei den »Falschen Freunden«, waren also eigentlich draußen, aber in denselben Kneipen. Wir tranken unsere Biere immer gleich am Eingang rechts am Eck. Jedes Grüppchen im Café hatte sein eigenes Revier. Ich kann mich nicht erinnern, in jenen hellen Jahren aus einem dunklen Jahrtausend, auch nur einmal den hinteren Teil des Baader-Cafés besucht oder an einem Tisch gesessen zu haben. Da standen wir also.
Gegen Mitternacht – manchmal etwas früher – zog das ganze Café dann einen Block weiter – ins »Tanzlokal« vorbei am Michi (Michi Kern, d.R.), der schon auf uns wartete und uns die Tür aufhielt. »Tanzlokal Größenwahn« stand über der Tür, für uns war es nur das Tanzlokal, vielleicht weil wir nie hier getanzt haben. Hier war definitiv »drinnen« und über den Spruch »Heute nur für Stammgäste« freuten wir uns – so blöd wir ihn fanden – jedes Mal wieder, wenn wir ihn hinter uns vernahmen. Im Tanzlokal wurde nur am Wochenende getanzt, wenn wir die Nacht kampflos den Jungmenschen mit den weißen Socken und den dreibuchstabigen Nummernschildern überließen. Da jede Szene ihren Dichterfürsten braucht, erwählten wir 1983 Rainald Goetz, der so schön über drinnen und draußen schreiben konnte. Er verdankt seinen Ruhm der Zeit, in der man kein Hippie und kein Punk war, aber irgendwie auf der Höhe der Zeit sein wollte. Viel war da nicht: »Als der bin ich dagestanden, der ich sein wollte: lonesome wolf, Hinschauer und Arroganz. Das war eine Freiheit! Da habe ich viele Biere darauf getrunken.« Er war der Fürst, so wie Fassbinder und Lemke früher die von der »Klappe« und Schwabing gewesen waren. Das hier war Glockenbach. Rainald Goetz war Lenbach und Klaus Mann zugleich, König von Nichts, und sein Reich war die Nacht, das Tanzlokal sein dunkler Palast. Er stand immer links von der Tanzfläche direkt vor dem großen Spiegel. Wir auch hier eher rechts, vorne am Eck an der Bar. Montags war Heavy-Metal-Nacht, und sie hörte erst auf, wenn Andy am Plattenteller in seiner Glasbox »Ace Of Spades« spielte, was damals noch ironisch klang, aber immer kurz vor eins passierte, wenn uns selbst Manuela Riva kein Bier mehr servierte. Dann war Schluss, und das Münchner Problem mit dem »angebrochenen Abend« ging in seiner ganzen Dramatik los.
Die Diskotheken – das Schöne am Tanzlokal war ja, dass es in unseren Augen keine Diskothek war – hatten teilweise bis drei Uhr in der Nacht offen. Die Schnösel unter uns zogen dann weiter ins P1, was wir (»wir« vom Eck der Bar vorne rechts), schon immer verachteten. Eher schon ins Schumann’s (damals noch in der Maximilianstraße), aber das gehörte der »Seidl«-Gang. Manchmal ergab es sich trotzdem nicht anders, dann musste man mit irgendwelchen Verrenkungen ins P1 rein. Irgendwann gab es das Babalu, das o.k. war, aber in Schwabing lag, und uns deshalb immer verdächtig und eine ganze Taxifahrt entfernt war. Gemein war all diesen Lokalitäten, den Zwischenwelten voller Tänzer, meist schlechter Musik (das Schumann’s natürlich ausgenommen) und noch teurerem Bier, dass auch sie höchstens bis vier offen hatten. Dann war Schluss, und es begann die definitive bayerische Unterhaltungs-Versorgungslücke.
Hatte man sich genug Übermut angetrunken, blieb nach Schumann’s oder P1 noch der Münchner Weißbierkeller und das laute Gefühl des nach Alkohol stinkenden Totalabsturzes, das dieser in der Erinnerung unglaubliche Münchner Bierkeller in der Nacht vermittelte. Danach ging eine unglaubliche Putzstunde lang wirklich gar nichts mehr. Wer immer in jenen unfassbaren Jahren die Nacht durchmachen wollte, musste mit dem letzten mitgenommenem Getränk in der Hand wie jeder Penner eine Stunde vor der »Schmalznudel« am Viktualienmarkt warten, bis sie wieder öffnete, und der Tag zünftig begann. ||
Passend hierzu präsentiert Ralf Dombrowski seine Nacht-Playlists und Chris Schinke empfiehlt eine vielseitige Zusammenstellung an Nachtfilmen. Viel Spaß beim Durchhören und -sehen!
F.W. Murnau, Der Gang in die Nacht (DE 1921, Komödie)
Ingmar Bergman, Das Lächeln einer Sommernacht (SE 1955, Komödie)
John Badham, Saturday Night Fever (USA 1977, Tanzfilm)
Michelangelo Antonioni, La Notte (IT 1961, Drama)
Martin Scorsese, Die Zeit nach Mitternacht (USA 1985, Thriller)
Jim Jarmusch, Night on Earth (USA 1991, Komödie, Drama)
Richard Linklater, Before Sunrise (USA 1995, Liebesfilm, Drama)
David Lynch, Lost Highway (USA/FR, 1997, Film Noir)
Stanley Kubrick, Eyes Wide Shut (USA 1999)
James Gray, Helden der Nacht – We own the Night (USA 2007, Thriller)
Peter Sollett, Nick and Norah – Soundtrack einer Nacht (USA 2008, Komödie)
Massy Tadjedin, Last Night (USA 2010, Drama)
Kenneth Branagh, Cinderella (USA 2015, Märchen)
Bertrand Bonello, Nocturama (BE 2016, Thriller)
J.A. Bayona, Sieben Minuten nach Mitternacht (USA 2016, Drama, Fantasy)
Gabe Klinger, Porto (PL 2016, Liebesfilm)
Romuald Karmakar, Denk ich an Deutschland in der Nacht (D 2017, Dokumentarfilm)
Johannes Schaff, Symphony of Now (DE 2018, Dokumentarfilm)
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