Christiane Mudra macht investigatives Theater über die brennenden Themen der Zeit. Ein Gespräch über ihr neues Projekt »Selfie & ich«.

Christiane Mudra. Selfie & Ich

Zwischen »Glücksterror« und Scham

selfie & ich

»Selfie & ich« © Verena Kathrein/ Yavuz Narin

Christiane Mudra, Sie haben sich in Ihren letzten Inszenierungen mit rechten Kontinuitäten in Deutschland, Gewalt gegen Frauen und Verschwörungstheorien beschäftigt. Der Titel Ihrer neuen Arbeit »Selfie & ich« wirkt vergleichsweise harmlos. Worum geht’s wirklich?
»Selfie & ich« ist der erste Teil einer Trilogie, die sich mit der Bewertung von Menschen innerhalb unserer sogenannten »Wertegemeinschaft« auseinandersetzt. In dem Stück geht es um psychische Erkrankungen wie Burn-out oder Psychosen in einer Welt, in der Leistung und Glück Statussymbole sind. Ich selbst hatte von Teenagerzeiten an viele Menschen mit psychischen Erkrankungen in meinem Umfeld und frage mich seit Langem, warum es immer noch so große Berührungsängste und so wenig Wissen über diese Erkrankungen in unserer Gesellschaft gibt. Schamgefühle und Geheimhaltung können Betroffene aber zusätzlich belasten.

Der Titel verweist auch auf eine Kluft zwischen Schein und Sein, zwischen der positiven Selbstdarstellung und dem, was dahinter versteckt wird.
Ja, psychisch Kranke versuchen oft mit großer Anstrengung, ein Bild von sich aufrechtzuerhalten. Aber auch für Menschen, die nicht an einer Erkrankung leiden, gibt es einen großen Druck, permanent zu »performen«. Nicht nur bei der Arbeit, sondern – je nachdem wie aktiv sie in den sozialen Medien sind – rund um die Uhr. Das ist nicht neu, aber ich glaube, durch die weltpolitische Lage entsteht gerade eine andere Brisanz. Viele Leute sind derzeit psychisch sehr belastet. Und trotzdem bildet sich das in der Außendarstellung überhaupt nicht ab.

Was wiederum bei denen, die diese Außendarstellungen für bare Münze nehmen, als Depressionstreiber wirkt.
Ja, vor allem bei ganz jungen Menschen. Da gibt es erschreckende Zahlen aus den USA, nach denen seit 2009, also seit Social Media auf Smartphones verfügbar sind, die Suizidrate bei den 10- bis 14-Jährigen um 150 Prozent zugenommen hat und selbstverletzendes Verhalten um 189 Prozent. In Deutschland sind Kinder- und Jugendpsychiatrien nicht erst seit der Pandemie überlastet.

Sie sprechen von »Glücksterror«, der Ausdehnung des Leistungsgedankens auf die optische, gesundheitliche und emotionale Selbstoptimierung. Es gibt aber auch das Gegenteil, eine ausgestellte Empfindlichkeit, die jedes Bauchgrimmen ernst nimmt. Oder sind das zwei Seiten derselben Medaille?
Ich glaube, dass wir in einer wahnsinnig egoistischen Gesellschaft leben, die mit dem übermäßigen Fokus auf die eigene Gesundheit etwas kompensiert. In Zusammenhang mit der entgrenzten Positivität spricht etwa Byung-Chul Han in seinem Buch »Müdigkeitsgesellschaft« von einem Mangel an »Sein«, der Nervosität und das Gefühl extremer Vergänglichkeit erzeugt. Weil zudem eine Auseinandersetzung mit dem Tod fehlt, kommt es zu einer Reduktion auf die nackte Arbeit und das nackte Leben, das es unbedingt gesund zu erhalten gilt. Was auch erklärt, warum während der Pandemie erstaunlich wenig über das Sterben gesprochen wurde. Alle haben sich an kleinteiligen individuellen Befindlichkeiten aufgehängt, dabei stand ein riesiger Elefant im Raum.

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Christiane Mudra | © privat

Wie haben Sie es geschafft, sich bei der Recherche auf diesem breiten Feld von Themen nicht zu verzetteln?
Ich habe wie immer mit einem größeren Blick angefangen, den Stoff am Ende aber so radikal komprimiert wie noch nie. Ich hatte schon früh eine Patientenakte von einem Mann mit Schizophreniediagnose, der zwischen 1938 und 1984 fast durchgehend in verschiedenen psychiatrischen Anstalten war. Seine Arbeitsfähigkeit scheint ihn in der NS-Zeit vor der »Euthanasie« gerettet zu haben. An den Notizen, die über ihn angefertigt wurden, kann man jedoch die Geringschätzung der Patienten durch Ärzte und Pflegepersonal ablesen, erfährt, welche haarsträubenden Behandlungsmethoden eingesetzt wurden, wie spät die Reformen in deutschen Psychiatrien begannen und wie stigmatisierend sich seine eigene Familie verhielt.

Das ist der eine Strang der Geschichte. Es gab aber auch eine wahnsinnige Resonanz auf meine Interviewanfragen. Das war beileibe nicht bei jedem Thema so. Und in den Gesprächen mit Betroffenen habe ich so tolle, reife und klarsichtige Menschen kennengelernt, dass ich immer noch Gänsehaut kriege. Dadurch kam es auch zu der Entscheidung, viele gesellschaftliche und politische Aspekte nur anzureißen, wie etwa beim Thema Alkoholabhängigkeit von gebildeten, gut situierten Frauen. Der Fokus liegt jetzt auf den Menschen. Es wird ein sehr persönlicher Abend werden.

Ist über diese persönlichen Begegnungen auch die Idee entstanden, in Privatwohnungen zu spielen?
Nein, das war von Anfang an geplant. Zum einen war mir die räumliche Nähe zwischen PerformerInnen und Publikum wichtig. Aber es war auch so, dass ich in der Pandemiezeit dachte: Alle sind so einsam in ihren Wohnungen. Da könnte man doch mal die Fassaden runterklappen und kucken, wie es drinnen aussieht. Viele denken ja noch immer, psychisch Kranke würde man gleich an ihrem irgendwie absonderlichen Benehmen erkennen. Und das Stück soll zeigen, dass sie meist nach außen ein ganz normales Leben führen, aber dass es hinter den Wohnungstüren ganz viele Geschichten gibt, von denen wir nichts wissen.

Für Interessierte, die Ihre Arbeit noch nicht kennen: Es ist nicht so, dass man Betroffene in ihren eigenen Wohnungen besucht?
Nein, die Betroffenen bleiben anonym. Fast 28% der Erwachsenen in Deutschland sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Deshalb sind es Wohnungen, in denen jeder von uns leben könnte. Und sie sind aktuell bewohnt und haben nicht so ein steriles Airbnb-Ambiente. Die Zuschauer bewegen sich in kleinen Gruppen von Wohnung zu Wohnung, wo sie je einem Performer oder einer Performerin begegnen. Sie tragen Kopfhörer, über die sie Soundcollagen aus O-Tönen und Geräuschen hören – und auf der Straße hören sie Auszüge aus der historischen Patientenakte, die auch etwas mit der Stadt zu tun hat. ||

SELFIE & ICH
24. Nov. bis 4. Dez. | Di bis So | 18 und 20 Uhr | Tickets nur online | Treffpunkt wird bei Ticketkauf übermittelt

Weitere Kritiken und Vorberichte finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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