Unter dem Motto »Zusammenkommen« fusionieren im Oktober die Freie-Szene-Festivals Freischwimmen und Rodeo. Schauen Sie hier, was Sie vom 7. bis 15. Oktober erwartet.
Freischwimmen meets Rodeo
Reizende Neuentdeckungen und reizarme Wohlfühlzonen
Lange war »Vernetzung« DAS Sehnsuchtswort in der Münchner freien Szene. Inzwischen sind eine ganze Reihe Vokabeln dazugekommen, von Inklusion bis audience development – im documenta-fifteen-Sprech auch »gemeinsam abhängen« genannt. Und es ist ja auch kein Wunder. Die Welt, wie wir sie kannten, säuft gerade ab. Da schaufeln auch die performativen Künste emsig Wasser aus dem Schiffsbauch; und weil es nebenbei ums eigene Überleben geht, wird die pralle Sinnlichkeit aller Sparten und Genres ins Feld geworfen. Das ist legitim, zeitigt mitunter wunderbare Resultate und wird nicht von den Festivals erfunden, sondern nur von ihnen auf ein höheres Podest gestellt. Und im Falle von »Freischwimmen meets Rodeo« noch von Lagerfeuergesprächen oder einem Festivalzentrum aus Recyclingmaterialien flankiert, das von 11 bis 22 Uhr barrierefrei geöffnet ist und auch nachts noch warme Gerichte kredenzt. Prima Ideen, wobei man sich manchmal bei dem Gedanken erwischt, wie toll die Kunst sein könnte, wenn die ganze Energie in sie flösse.
Was das Dauerthema Vernetzung angeht, ist »Freischwimmen meets Rodeo« ein Traum. Oder »ein match made in heaven« wie Ute Gröbel sagt, die das Doppelfestival gemeinsam mit Antonia Beermann leitet. Es legt in einer einmaligen Sonderausgabe zwei Plattformen übereinander. Auf der einen tummeln sich voneinem Netzwerk aus acht deutschsprachigen freien Bühnen ausgewählte Newcomer. Die andere ist das sich seit 2010 beständig neu erfindende Münchner Freie-Szene-Treffen Rodeo. Und das kam so: Das Münchner HochX hat sich als jüngstes Mitglied im Freischwimmer-Netzwerk aus brut Wien, FFT Düsseldorf, Gessnerallee Zürich, LOFFT Leipzig, Schwankhalle Bremen, SOPHIENSÆLE Berlin und Theater Rampe Stuttgart »einfach mal gemeldet« sagt Gröbel, als es um die Wiederaufnahme des 2017 abgerissenen biennalen Festivalbetriebs ging – und als kurz danach das Kulturreferat anfragte, ob die künstlerische Leitung des HochX heuer den Rodeo-Wanderpokal übernehmen wollte, hätten sie kurz geschluckt und dann gefunden: »Eigentlich ergänzt sich das sehr gut.« Eine stärkere lokale Anbindung für die überregionalen Gäste, größere Sichtbarkeit für die Lokalmatadore. Musste also nur noch ein Gesamtkonzept her,das beide Programme miteinander verzahnt, fürs Publikum spannend ist und den Austausch zwischen den überwiegend jungen Künstlern ins Zentrum stellt, die möglichst alle neun Festivaltage in München bleiben sollen. Denn das Motto heißt »Zusammenkommen«.
Und was soll man sagen? Das Konzept ist da, wurde sogar mit mehr Geld von der Stadt abgesegnet und ist auf der Website festival.theater-hochx.de zur ersten Orientierung freigegeben. Die Zugehörigkeit der einzelnen Produktionen zur ein oder anderen Plattform kann man noch an der Farbe erkennen: Die neun Freischwimmen-Acts kommen erfrischend wasserblau, die sechs Rodeo-Acts rot daher. Im Gesamtbild geht es dann 15-fach bunt durcheinander. Am 7. Oktober wird mit Doppelblau eröffnet: Das freie Performancekollektiv Chicks aus Berlin bietet »Deep Dancing« für Kleingruppen auf der Suche nach intimen Tanzerfahrungen und S. (Saskia/Simon) Rudat einen Abend zwischen Livekonzert und Standup-Comedy zum Thema Scham, der laut Beermann »sehr lustvoll, ehrlich und angenehm unangenehm für uns alle« ist. Dazwischen funkelt es zweimal rot mit Kassandra Wedels und Rosalie Wankas 20-Minuten-Outdoor-Performance »Visual Vibrations«, die Hip-Hop und Gebärdensprache zur »hochenergetischen Gebärdenpoesie« (Gröbel) verbindet. Und mit Kolja Hunecks Poem aus Jonglage, Licht, Farbe und Sounds, das Gröbel »totales Entschleunigungs-Antispektakel« nennt, ist erstmals auch der zeitgenössische Zirkus Teil des Rodeo-Programms.
Es ist ein Festival des anything goes und der kleinen Formate. Und wenn Beermann für den Freischwimmen-Teil statt fertiger »Hochglanzprodukte«, die in der freien Szene ohnehin selten sind, Try-outs und Module verspricht, die Arbeitsweisen transparent machen, erwischt einen ein kleines Déjà-vu. Hatten wir das nicht schon mal bei Rodeo 2016 mit diversen Werkstattbegehungen? Doch während Sarah Israel in dieser und der darauffolgenden Festivalausgabe den Szenegrößen noch Inseln baute, fehlen sie diesmal ganz. Die Rodeo-Auswahl, die Ute Gröbel gemeinsam mit Tunay Önder und Caroline Frölich aus fast 50 Bewerbungen getroffen hat, übersieht geflissentlich die zentralen Strömungen wie die jungen Etablierten der letzten Jahre. Das ist verwunderlich, liegt vielleicht auch an den Einsendungen zum Open Call – und lässt auf Entdeckungen hoffen. Alle sechs Geladenen sind Rodeo-Debütant*innen. Manasvini K. Eberl ist mit ihrem in eine Sound- und Videoinstallation eingebundenen Solo »Tasting Water« sogar mit ihrer ersten Arbeit dabei.
Auswahlkriterien waren laut Gröbel ungewöhnliche Narrative und Formen und »wie gesellschaftliche Diversität auf der Bühne verhandelt wird.« Eine Ode an die »Luft!!« ist dabei, die wir ja alle atmen, Léonard Engels garantiert süchtig machende, hypnotische Drehtanzstudie »Parotia« und »Innuendo« von Lea Ralfs: eine atmosphärisch dichte Produktion, für die der Autor Jan Geiger Ralfs Auseinandersetzung mit ihrem Großvater verschriftlicht hat. Der war im Zweiten Weltkrieg an der Front, Nazi, Metzger – und schwul. Er starb an Aids, als Lea drei war und ist in ihrer Erinnerung fest mit der Person Freddie Mercury verbunden, weil immer, wenn die Mutter von ihm erzählte, Queen im Radio kam. S osingen und spielen Olaf Becker als Freddie und Max Wagner als Opa meist in fahrbaren Glaskästen, und Becker spielt auch den ein oder anderen Langzeit- oder Darkroom-Lover. Dazwischen fragt und wütet Lea (Mara Widmann) und sucht nach Klarheit, die es nicht gibt, während die beiden Männer es schaffen, erotische Anziehung durch das Glas hindurch spürbar werden zu lassen.
Choreografiert hat das übrigens Stephan Herwig, womit doch noch ein Recke der Münchner Szene beim Doppelfestival dabei ist, das sich mit allen Mitteln nach der Gemeinschaft streckt, die man in der Corona-Zeit so vermisste. Dass die auch im Zuschauerraum vielfältig ist, dafür sollen Audiodeskription, Gebärdendolmetscher, reizarme Wohlfühlzonen und ein umfassendes Rahmenprogrammsorgen, das bis zum Flecht- und DJ-Workshop reicht. Und auch auf den Bühnen geht es um alte und neue Rituale. So lädt etwa das Leipziger Syndikat Gefährliche Liebschaften zwei Millionen Schweine zum Schlachtfest der Zukunft ein, die Gruppe CIS erforscht den Zusammenhang zwischen Waschen und Wiederkehr, Criptonite fragen danach, warum wir die Lust so selten mit dem Schmerz zusammendenken, Die Soziale Fiktion & Friends (Bremen) schlagen vor, gemeinsam zu weinen, und die Münchner Freischwimmerin Sandra Chatterjee untersucht ein weiteres Mal die gemeinschaftsbildende und trennende Funktion von Gerüchen. Auf das Zusammenkommen mit den Stadt- und Staatstheatern, von dem man sich in der Vergangenheit einen Multiplikatoreffekt versprach, wird diesmal übrigens bewusst verzichtet. Laut Antonia Beermann soll gerade das Fachpublikum an die weit verstreuten Orte kommen, an denen die freie Szene Münchens wirklich zu Hause ist. ||
FREISCHWIMMEN MEETS RODEO
Verschiedene Spielstätten | 7.–15. Okt.
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