Regie-Haudegen Paul Schrader schickt mit »The Card Counter« Oscar Isaac in bewährter Rezeptur auf eine Reise ins Fegefeuer. Ab heute im Kino!
The Card Counter
Und dann macht es boom

Kleiner Einsatz, beachtlicher Gewinn. Paul Schrader schickt Oscar Isaac in »The Card Counter« von Casino zu Casino | © 2021 Lucky Number, Inc
»Mein Ziel ist es, einen Riss im Schädel der Zuschauer zu erzeugen, der eine Kluft aufreißt zwischen dem, was sie sich von meinen Figuren wünschen und erwarten, und dem, was sie fühlen, nachdem sie Zeit mit ihnen verbracht haben. Wie sie diese Anpassung vornehmen, bleibt ihnen überlassen, aber den Betrachter in diese Art von Konflikt zu verwickeln, ist das, was jeder Künstler anstrebt. Es ist nicht so wichtig, was meine Zuschauer denken, sondern dass sie denken«. Das cineastischcalvinistische Multitalent Paul Schrader (»Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln«, »American Gigolo«) zelebriert seit Jahrzehnten (s)ein ureigenes Kinokonzept: »A man in a room« – und dann macht es boom. Stets mittendrin: ein männlicher, zwischen Selbstzweifeln und Weltekel hadernder Schuld-und-Sühne-Heros a la Travis Bickle (»Taxi Driver«), John LeTour (»Light Sleeper«) oder Frank Pierce (»Bringing Out The Dead«), der nach einer Katharsis sucht und dafür brutale Racheaktionen in Kauf nimmt, um so am Ende wenigstens im Fegefeuer der Geschichte schmoren zu können. Ironischerweise, ohne je eine wirkliche Chance auf Erlösung oder einen radikalen Neuanfang zu bekommen. In Schraders exquisitem Männerkino zählt mehrheitlich allein der Akt des Ausbruchs und weniger dessen Folgen.
In die Reihe dieser Ausnahmefiguren des Weltkinos gehört zweifelsohne auch der neue Antiheld aus Schraders purgatorischem Arme-Seelen-Kino-Kosmos: William Tell, mit dessen glänzender Verkörperung Oscar Isaac im letzten Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig für viel Aufsehen sorgte und trotzdem ohne Coppa Volpi nach Hause kam. In »The Card Counter« trumpft er darin als ebenso undurchsichtiger wie professioneller Kartenspieler im Wortsinn von Beginn an ganz groß auf und trägt, unterstützt durch ein nicht minder glänzendes Nebendarstellerensemble, dieses meisterhaft zwischen Rachethriller und Militärdrama mäandernde Alterswerk quasi im schauspielerischen All-in-Modus. Damit beweist er ein weiteres Mal, dass er nicht nur in Disneys »Star Wars«-Kosmos oder im etwas artifizielleren Blockbusterkino Denis Villeneuves (»Dune«) zu Hause ist, sondern beginnend von seiner starken Performance in »A Most Violent Year« (2014) bis hin zur aktuellen HBO-Neuinterpretation von Bergmans »Szenen einer Ehe« an der Seite von Jessica Chastain zu einem veritablen Charakterdarsteller gereift ist. Nicht wenige munkeln seit Monaten völlig zu Recht, dass er sich demnächst einen Oscar als bester Hauptdarsteller ins Heimregal stellen darf.
Als titelgebender »Card Counter«, der mit kleinen Einsätzen, aber passablen Gewinnen von Casino zu Casino driftet, bleibt er in Schraders durchgängig zupackender und visuell atemberaubender Regie trotz aller schelmischen Kabinettstücke am Pokertisch bis zum blutigen Finale vor allem ein Mann mit tonnenschwerer Schuld. Als verurteilter und unehrenhaft entlassener Folterer aus der Hölle von Abu Guhraib saß er zehn Jahre lang im Militärgefängnis, während etwa sein Vorgesetzter John Gordo (gewohnt diabolisch: Willem Dafoe), Profession: »Befragungsspezialist«, straffrei davonkam und seitdem als selbstständiger Berater für Militär- und Sicherheitstechnik rund um den Globus jettet und dabei Millionen scheffelt. Angefixt von eigenen Rachegelüsten brachte sich das Blackjack-Ass Tillich, wie er damals noch hieß, in den stillen Stunden der Haft die Kunst des Kartenzählens bis zur Perfektion bei. Unterstützt vom Schulabbrecher Cirk (Tye Sheridan), dessen prügelnder Vater sich im Folterwahnsinn des US-Militärs im Irak ebenfalls schuldig gemacht hat und dafür nach Kriegsende erschoss, und der erotisch-halbseidenen Spielervermittlerin La Linda (Tiffany Haddish) sinnt er im Moment nur noch auf Vergeltung. Die Idee, ein Leben in Freiheit zu führen, ist ihm bereits seit dem Tag seiner Verurteilung fremd. Ihm geht es beim Spielen im Grunde nur noch darum, die Zeit totzuschlagen: denn die Folterknechte des Satans erwarten ihn post mortem sowieso.
Mit einnehmender Erzähldisziplin, sinnlich-cooler Musikgestaltung (Robert Levon Been und Giancarlo Vulcano) und einer Reihe kurzer, aber einprägsamer Goya-meets-Bosch-Höllenvisionen im verzerrten VR-Stil (Bildgestaltung wie schon bei »Dog Eat Dog« und »First Reformed«: Alexander Dynan) ist dem New-Hollywood-Altmeister Paul Schrader zum dritten Mal in Folge ein würdiger Abschlussfilm seiner schillernden Karriere gelungen, der zweifelsfrei aufhorchen lässt und zu den Höhepunkten dieses Kinojahres zählt. Denn die Welten des Sehnens und Suchens, der Süchte wie der Strenge werden derzeit in kaum einem anderen Spätwerk eines betont cinephilen Filmemachers großartiger zur Geltung gebracht. Wir wünschen ihm deshalb: Full House – im Kino wie bei der Oscarverleihung im März. ||
THE CARD COUNTER
USA, 2021 | Regie: Paul Schrader | Mit: Oscar Isaac,Willem Dafoe u.a. | 112 Minuten | Kinostart: 3. März
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