Das beeindruckende Drama »The Quiet Girl« erzählt vom Schmerz und der Einsamkeit eines schweigsamen Mädchens im ländlichen Irland.

The Quiet Girl

Stilles Leiden

the quiet girl

»The Quiet Girl« ist der erfolgreichste Film aller Zeiten, der in irischer Sprache gedreht wurde © Neue Visionen

Völlig emotionslos verabschiedet sich der Vater von seiner Tochter Cáit, bevor er mit dem Auto davonfährt. Den Koffer mit ihren Kleidern vergisst er dazulassen. Das neunjährige Mädchen steht verloren in der Einfahrt eines fremden Ehepaars. Diese sollen sich um Cáit über den Sommer kümmern, weil ihre leiblichen Eltern mit Ernte, Finanzschulden und vier weiteren Kindern überfordert sind. Die Gründe kommen nur am Rande vor, wenn die Tochter ein Gespräch belauscht oder wenn der Vater über das trockene Wetter klagt.

Stattdessen richtet sich der Fokus ganz auf das Mädchen, auf ihre Perspektive und ihre Einsamkeit. Immer wieder platziert die Kamera sie im Zentrum der Bilder und lässt die Ränder im Unklaren verschwimmen. Sie sagt kein Wort, leidet im Stillen. Erst die »neue« Mutter Eibhlín erkennt, dass den Gefühlen des Kindes zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie und ihr Mann Seán sind wesentlich reichere Bauern als Cáits Eltern. Das Landhaus ist groß und die Felder weitläufig.

Eibhlín heißt das Mädchen willkommen. Sie bringt Cáit zu Bett, frisiert sie, lehrt sie kochen, putzen und zeigt ihr eine versteckte Wasserquelle im Wald. Seán dagegen weiß nicht, wie er mit dem jungen Mädchen umgehen soll. Am Esstisch schweigt er meistens, im Wohnzimmer wendet er sich nie vom Fernseher ab, den Bauernhof zeigt er ihr lange Zeit nicht. Der Film von Colm Bairéad beruht auf einer Kurzgeschichte von Claire Keegan und zeigt auf sehr ruhige und nachdrückliche Weise, dass die Männer im ländlichen Irland der 1980er den Frauen und Mädchen nicht mit Blicken und Worten begegnen können.

Auch Eibhlín wird in ihrer Rolle als Hausfrau nie gewürdigt. Nur Cáit hat ein Auge dafür. Sie stellt Fragen, imitiert, hilft mit. Die Schauspielerin Catherine Clinch ist dabei eine große Entdeckung. Auch Carrie Crowley und Andrew Bennett als Pflegeeltern spielen eindrucksvoll. Der Film, der bei den Oscars als bester internationaler Film nominiert wurde und unvorhergesehen zum irischen Kassenschlager avancierte, umkreist ganz vorsichtig die Wunden eines Verlustes. Cáit verliert ihre Eltern und auch Eibhlín und Seán haben in der Vergangenheit ein Familienmitglied verloren. Das Mädchen wird zum geliebten Ersatzkind.

»The Quiet Girl« reiht sich ein in Filme wie »Petite Maman« von Céline Sciamma oder »Close« von Lukas Dhont, die in den letzten Jahren mit viel Gespür von einem Schmerz ihrer jungen Protagonisten erzählen, der sich für sie (noch) nicht in Worte fassen lässt. Die fremden Tapetenwände des Schlafzimmers, die unheimlichen Schatten der Bäume, die Stille im leeren Haus … Es ist vielmehr die Atmosphäre des Unbekannten, für die die Kinder eine besondere Sensibilität haben.

Aber dass die Welt größer und komplexer als die eigene Wahrnehmung ist, dass auch die Erwachsenen im Stillen leiden, merken die Kinder in den drei genannten Filmen nach und nach. Cáit versteht erst langsam, was es mit der geheimen Wasserquelle auf sich hat. In der spiegelnden Oberfläche erkennt sie erst sich selbst und später das Unausgesprochene. Ihr Coming-of-Age geschieht leise, aber sie entwickelt sich stetig. Am Ende steht die große Frage, wie sie mit zukünftigen Verlusten im Leben umgehen wird. ||

THE QUIET GIRL
Irland 2022 | Regie: Colm Bairéad | Buch: Claire Keegan, Colm Bairéad | Mit: Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch u.a. | 95 Minuten | Kinostart: 16. November | Website

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