Bücher sind ein großartiges Geschenk. Hier haben Sie vier Tipps für ein literarisch-gelungenes Weihnachten. Nichts dabei? In unserer Dezember-Ausgabe gibt es noch mehr (hier und hier).
LUCY FRICKE: TÖCHTER
Rowohlt, 2018 | 240 Seiten | 20 Euro
von Gisela Fichtl
Marthas krebskranker Vater bittet sie, ihn in die Schweiz zu bringen, wo er Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte. Ihre Freundin Betty begleitet die beiden, um Martha beizustehen. Es beginnt eine so skurrile wie tiefsinnige und komische Roadnovel quer durch Europa und in die eigene Vergangenheit. Die beiden Frauen hatten ihr Leben lang versucht, der Enge ihrer Herkunft zu entkommen, und ziehen nun in ihren Vierzigern ein radikales Resümee. Zwei Frauen, die alle Freiheiten hatten, ihre Freiheit zu nutzen. »Ich ging davon aus, dass wir die erste Generation von Frauen waren, die machen konnte, was sie wollte. Das hieß aber auch, dass wir machen mussten, was wir wollten, und das wiederum bedeutete, dass wir etwas wollen mussten. Dafür hatten unsere Mütter gekämpft.« Auf ihrer Reise geraten die drei auf bizarre Umwege – bis zu einem fulminanten Showdown. Lucy Fricke hat für diesen rasant erzählten, klugen Roman völlig zu Recht den Bayerischen Buchpreis erhalten. ||
HEINZ STRUNK: DAS TEEMÄNNCHEN
Rowohlt, 2018 | 206 Seiten | 20 Euro
von Matthias Pfeiffer
Die Welt der Abgehängten, Stehengebliebenen und Verlorenen – nichts anderes beschreibt Heinz Strunks »Das Teemännchen«. In fünfzig Kurz- und Kürzestgeschichten stößt er seine Leser in schmerzhafte Alltagsmartyrien. Man trifft auf ein extrem übergewichtiges Paar, dessen Lebensinhalt nur noch aus Fast Food und dem Spielautomaten besteht. Da wäre die junge Schönheit, die ihr Job an der Pommesbude zugrunde richtet. Und niemand geringeres als Axl Rose durchlebt eine Höllennacht auf der Reeperbahn. Was Strunk hier schildert, ist alles andere als schön. Seine Geschichten sind unsentimental und bitter, aber keine Betroffenheitsprosa oder eine Freakshow auf RTL-2-Niveau. Und dazwischen blitzt immer wieder Strunks abstruser Humor durch. Zum Beispiel, wenn ein sehr klein gewachsener Mann mit einer normalen Toilette konfrontiert wird oder eine andere gebeutelte Figur eine unwahrscheinlich bizarre Metamorphose durchmachen muss. Aber egal, ob surreal oder realistisch, das gesamte Buch ist von einer bleischweren Düsternis durchzogen, der man sich nicht entziehen kann. ||
JUDITH KEMP: »EIN WINZIG BILD VOM GROSSEN LEBEN«. ZUR KULTURGESCHICHTE VON MÜNCHENS ERSTEM KABARETT »DIE ELF SCHARFRICHTER« (1901–1904)
Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte | Allitera Verlag, 2017
381 Seiten | 59 Euro
von Stefan Frey
»Ein winzig Bild vom großen Leben« – das versprach Willy Rath in seinem Vorspruch für das Programm der »Elf Scharfrichter«. Und daran hat sich auch Judith Kemp in ihrer Kulturgeschichte dieser legendären Münchner Institution gehalten. Der Musik- und Theaterwissenschaftlerin gelingt es, Münchens erstes Kabarett nicht nur so vollständig wie möglich zu dokumentieren, zu analysieren und zu erklären, sondern auch dem »spezifischen Wesen dieser Bühne auf den Grund zu gehen«. Seitdem »Die Elf Scharfrichter« 1901 mit einer »Galaeröffnungsexekution« begründet wurden, strömte die Münchner Boheme in das kleine Theater in der Türkenstraße 28, das bald zu einem festen Bestandteil der damaligen Schwabinger Kunstszene wurde. Kemp durchleuchtet dessen ideengeschichtlichen Hintergrund, geschäftliche Organisation und allabendliches Repertoire. Vor allem aber werden die Ensemblemitglieder in Einzelbiografien lebendig, nicht nur die prominenten wie Frank Wedekind, Otto Falckenberg oder Heinrich Lautensack, sondern auch die musikalischen Protagonisten wie Marya Delvard, Marc Henry und vor allem der Komponist Richard Weinhöppel. Wie das von Kemp zusammengestellte, großartige Bildmaterial zeigt, haben »Die Elf Scharfrichter«, obwohl sie sich schon nach nur drei Jahren auflösten, in München bis heute ihre Spuren hinterlassen. ||
ÜBER UNTERWEGS
Ein Jahreskalender von Barbara Yelin
Reprodukt, 2018 | 13 Seiten, farbig, 34 × 42 cm
20 Euro
von Cornelia Fiedler
Erleuchtung durch Sonnenbrand, Stress im James-Bond-Stil, das Geheimwissen um das richtige Tempo zum Überqueren von Hauptverkehrsstraßen in Kairo – es sind irritierende, ernüchternde, auch mal rührende Szenen, die die Comiczeichnerin Barbara Yelin in ihrer Serie »Über Unterwegs« festgehalten hat. Dass Reprodukt jetzt zwölf ihrer Reiseschlaglichter, die im »Tagesspiegel« als Serie erschienen sind, als Kalender für 2019 herausgibt, passt perfekt. So kann man unterm Baum gleich die wichtigsten Termine markieren, die Reisen, natürlich: Im März den Kurztrip zum Kölner Karneval – direkt unter Yelins selbstironischem Alpenüberquerungs-Tableau; am 8. Juni die Teilnahme an der Pfingst-Blechkarawane, die sich in aller Herrgottsfrühe den Brenner hinaufschleppt – so wie die überengagierte Java-Urlauberin im Comic auf den Borobudurtempel; und natürlich den Sommerurlaub, idealerweise erst im September – auf jener dunkelblau verregneten Seite also, auf der das Quengeln über den Stau auf dem Weg zu einer Lesung der Zeichnerin eine traurigschöne Erkenntnis beschert. ||
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