»Transit« heißt der neue Film von Christian Petzold, der ab heute im Kino zu sehen ist. Wir sprachen mit dem Regisseur über unvergängliche Freundschaften, das Berliner Licht, die Bedeutung des Melodrams und die Flucht.

Christian Petzold © Schramm Film// Marco Krüger

Herr Petzold, »Film ist Gegenwart« lautet ein bekannter Satz von Ihnen. Wie viel Gegenwart steckt in Ihrem neuen Film »Transit«, der durchaus sehr komplex angelegt ist?
Christian Petzold: Der ist hundertprozentig Gegenwart! Ich finde, dass auch alle anderen Filme von mir, selbst die, die noch historischer angelegt waren, immer schon sehr gegenwärtige Filme waren. Gerade bei diesem Film wollte ich aber nun, dass es gerade einen Transit-Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt und nicht nur einen Transit-Raum zwischen Europa und Amerika.

Für »Transit« haben Sie sich für eine freie Roman-Adaption von Anna Seghers’ gleichnamigen Flucht-Roman aus den 1940ern entschieden. Wie sehr hat das vielleicht auch unbewusst damit zu tun, dass Sie und Ihr verstorbener Drehbuchpartner Harun Farocki beide Flüchtlingskinder sind?
Ganz viel sicherlich, aber das ist mir im Grunde erst im nachhinein aufgefallen. Ich lese gerade Oskar Maria Grafs »Das Leben meiner Mutter«. Jedes Erzählen, jedes Aufbrechen hat immer auch mit Reisen zu tun – nicht nur als Flüchtling, das ist auch in diesem Roman nicht anders. Viele gingen damals beispielweise nach Amerika. Und so ist eigentlich unsere heutige ganze Existenz eine Existenz von Reisenden, von Werdenden, von Lernenden, von Erfahrenen… Aber es wird in unserer heutigen Sprache immer so getan, dass man nur glücklich werden kann, wenn man ein Reihenhaus mit Jägerzaun hat, das man mit Waffengewalt verteidigt.

Transit-Räume sind Durchgangsräume, wie man sie vielfach in Ihrem gesamten Oeuvre wiederfindet. Der Begriff selbst hat mich sehr an das »Passagen-Werk« von Walter Benjamin erinnert, in dem – wie bei Ihnen – Warteräume, Flughafenzonen oder Bahnhofshallen eine große Rolle spielen.
Oh ja, absolut. Und Benjamin ist einer meiner wichtigsten Lebensautoren!

Und zugleich ist eine Hafenstadt wie Marseille, in der Sie gedreht haben, voller Transiträume…
Ganz genau. Als ich in Marseille mögliche Drehorte recherchierte und dabei durch die Straßen spazierte, habe ich immer auch an die Toten dieser Stadt gedacht. So wie es im Film auch eine klare Beziehung zur Unterwelt gibt: Die Toten kommen hier vielleicht zurück, während die Lebenden ins Totenreich wandern. Oder in eine Art Vorhölle.

Trotzdem sitzen Sie durch den Tod Ihres Freundes und Mentors Harun Farocki, mit dem Sie jahrelang Seghers’ Roman gelesen und diskutiert hatten, nun bei der Drehbucharbeit zwangsläufig alleine am Schreibtisch: Er war immer so etwas wie Ihr persönliches Korrektiv. Wie gehen Sie das Schreiben seitdem konkret an?
Ich bin immer noch mit Harun in Kontakt, obwohl ich überhaupt kein Esoteriker bin. Im Gegenteil: Eigentlich bin ich ein entsetzlicher Protestant (lacht). Aber ich befrage beim Schreiben immer noch unsere Freundschaft, an die mich täglich erinnere. Und wir sind früher eben immer viel spazieren gegangen, haben zusammen laut gedacht und zu 99 Prozent war’s dann ich, der nach Hause gerannt ist und das aufgeschrieben hat. Und eigentlich mache ich das heute auch noch so, nur dass ich jetzt eben alleine spaziere oder Musik hörend in meinem Büro sitze und mir die Geschichte immer wieder selbst erzähle. Und dann habe ich da schon seit zwanzig Jahren drei Bekannte, einer von ihnen ist KFZ-Mechaniker, einer ist Buchhändler: Denen erzähle ich dann immer meine Geschichten. Früher war Harun dabei, heute mache ich das alleine – und es funktioniert.

Also ist es im Grund auch bei Ihnen immer noch die klassische »Wo ist das Fleisch?«-Methode, wie wenn man es jemandem abends in der Kneipe erzählen würde…
Ja, weil ich finde: Man muss einen Film erzählen können. Das Kino ist meiner Meinung nach mit der mündliche Tradition verwandt: Es hat, wie Sie es mit dem »Passagen-Werk« von Walter Benjamin richtig erwähnt hatten, sehr viel mit Mythen zu tun. Das ist für mich auch der Grund, warum heutzutage Serien so erfolgreich sind und warum auch ich mir die so gerne ansehe, weil es am nächsten Tag jedes Mal so schön ist, wenn man jemanden trifft, der die Serie auch gesehen hat. Und man erzählt sich das gegenseitig im Grunde genommen wie ein Märchen: Harun und ich haben das nie anders gemacht.

Franz Rogowski als Georg © Schramm Film// Marco Krüger

Was nun nach »Barbara« und »Phoenix«, die Sie explizit als Trilogie verstehen, bei »Transit« besonders ins Auge fällt, ist Ihre zunehmende Hinwendung zum Melodram Hollywoodscher Prägung. Zugleich scheinen Sie auch an Fassbinders Farb- und Sirks Erzähltechniken besonders interessiert zu sein: Woher kommt diese Vorliebe? Und sind Sie damit nun analog zu Ihrer Arbeit als Filmemacher im Spätwerk Fassbinders angekommen?
Es gab ja immer schon so verfeindete Brüderpaare wie in Herzogenaurach: Adidas oder Puma? Oder früher in der Bundesliga: Bayern München oder Borussia Mönchengladbach? Und in den Achtzigern hieß es dann: Fassbinder oder Wenders, Melodram oder Romantik? Während das bei Wenders immer so eine narzisstische, leicht melancholische Selbstbespiegelung ist, hat Fassbinder das Melodram eigentlich ganz hart benutzt. Und ich habe bei mir selbst gesehen, dass ich eigentlich bei Wenders begonnen habe: Das waren Reisefilme, Entwicklungsromane. Bei »Phoenix« habe ich dann aber gemerkt: Das ist ja wie ein Fassbinder-Film! Und durch »Transit« bin ich nun auch bei den Farben, das ist echt Douglas Sirk, wirklich Bayern München-Fan geworden. (lacht).

Bei Fassbinder hatte das damals auch ganz konkret mit dem Wechsel hinter der Kamera zu tun: Von Michael Ballhaus zu Xaver Schwarzenberger. Sie dagegen reisen schon von Beginn an mit Ihrem Stammkameramann Hans Fromm gemeinsam durch all ihre Filme. Dabei fiel schon bei »Phoenix« auf, dass Sie sich beide zunehmend für das Lichtkonzept des »Film noirs« interessieren, das ja im Hollywood der 1930er und 1940er Jahre überwiegend von deutschen Emigraten entwickelt wurde. Wie sind Sie bei der Bildgestaltung von »Transit« vorgegangen? Und was steht bei Ihnen zuerst fest: Die Idee von einem Bild oder das konkrete Farbkonzept? In »Transit« ziehen sich ja beispielsweise die Farben der Tricolore – zusammen mit gelb und orange – durch den gesamten Film…
Das hatte in der Tat schon bei »Phoenix« begonnen, als Hans und ich ein Gespräch über das »Licht aus Berlin« geführt haben: Also das Licht von Billy Wilder, Fritz Lang, Robert Siodmak und Douglas Sirk, das eben nach Hollywood ausgewandert war und dort als »Schwarze Serie« ein neues Kino erfunden hat. Und dieses »Exillicht« eben jener Leute, die der Schwärze Deutschlands entfliehen mussten, hat uns beide interessiert. Und nachdem ich mir dann alle Douglas-Sirk-Filme angesehen hatte, habe ich zu Hans gesagt, dass wir für »Phoenix« so einen Realismus, der im Grunde überhaupt kein Realismus mehr ist, erfinden müssen. Und bei »Transit« wollten wir dann eben das Wasser, die Luft, alles Transitorische noch viel stärker machen. Die Einstellungen selbst entstehen dann wirklich erst am jeweiligen Tag selbst, nachdem wir lange mit den Schauspielern geprobt haben.

Sie sind generell bekannt dafür, dass bei Ihnen vor dem jeweiligen Dreh immer sehr, sehr lange geprobt wird…
Das mache ich immer schon sehr gerne, und übrigens auch übermorgen wieder, wenn hier in München der nächste »Polizeiruf 110« gedreht wird. Dann treffen wir uns auch an diesem Wochenende zum Beispiel wieder an den Orten, wo wir drehen. Dann schauen wir uns einen Tag lang Filme an und lesen ganz kalt erst mal das Drehbuch ohne große Gefühle. Ich halte dann einen kleinen Vortrag, warum ich das überhaupt geschrieben habe, welche Musik ich dabei gehört habe, um den Schauspielern und dem gesamten Ensemble mitzuteilen, warum ich das Ganze gemacht habe. Und dann gehe ich mit den Schauspielern immer erst mal alle Orte ab, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Sets sind mit Beleuchtungskörpern und so, aber es ist alles schon eingerichtet. Danach haben die Schauspieler ein, zwei Tage, um sich zurückzuziehen, weil sie ja dann das Drehbuch noch einmal mit Eindrücken lesen: Mit Gefühlen, mit Erfahrungen. Und dann an dem Tag, wenn wir drehen, treffe ich mich mit den Schauspielern um halb neun: Die haben ihre Kostüme dabei und sonst gar nichts. Es ist auch noch niemand vom Team da. Wir haben vielleicht ein wenig Kaffee da, aber sonst nichts. Und dann proben wir den ganzen Tag – einen ganzen Drehtag! Wir überlegen uns zum Beispiel, wie Barbara Auer ihren Koffer packt: Was kommt in den Koffer, wie legt sie die Dinge hinein? Erst wenn sie sich darin sicher fühlt, komme ich mit Hans und der Kamera hinzu.

Dafür muss man aber auch erst mal Produzenten haben, die das so lange mitmachen, oder?
Ja, die kommen dann schon mal dazu und sind erstaunt, dass bis 12 Uhr noch gar nichts gedreht worden wurde… (lacht) Aber dafür drehen wir das Ganze dann meistens nur in ein oder zwei Takes. Und damit sind wir auch um 17 Uhr fertig. Ich habe in den letzten sechs Filmen keine einzige Überstunde gemacht.

Um noch einmal konkret auf »Transit« zurückzukommen, den ich jetzt nach der Berlinale zum zweiten Mal gesehen habe. Beim ersten Mal wirkte er für mich mehr wie ein ambitionierter Entwicklungsroman, aber auch wie eine komplexe Liebesgeschichte und eine anspruchsvolle Exkursion filmgeschichtlicher Art. Beim zweiten Sehen dagegen hatte ich viel mehr den Eindruck, sehr wohl einen Flüchtlingsfilm zu sehen und zugleich einen sehr zeitgemäßen Heimatfilm. Inwieweit deckt sich mein Eindruck mit Ihrer Konzeption?
Ich finde, dass sich darin immer wieder beide Eindrücke überlagern. Das ging mir selber beim Filmen genauso: Zum Beispiel in der Szene, wenn Franz Rogowski als Georg das Radio repariert. Das Radio war wirklich kaputt und er musste es auch wirklich reparieren. Das merkt man auch in der Behutsamkeit und Genauigkeit, wie er lötet. Und dann kommt plötzlich Musik heraus und jemand bekommt automatisch ein Heimatgefühl, von etwas, das verloren ist: Ein Zuhause, das es nicht mehr gibt, weil ihm seine Mutter dieses Lied früher genau so vorgesungen hatte. In diesem Moment stimmt alles, ist alles da bei Franz Rogowski: Diese Erinnerung überschwemmt ihn. Und eine ganz ähnliche Stimmung hatten auch wir hier in Marseille, während des Drehs: Als Deutsche im Ausland, die dieses Lied hören, das sie an Zuhause und ihre Kindheit erinnert. Und dabei muss ich noch einmal auf Walter Benjamin zurückkommen, der erkannt hatte, dass wir Erzähltes häufig in Liedern weitergeben: Egal ob als Handwerker oder Reisender. Und das spürt man in diesem einen Moment bei Franz Rogowski sehr stark, der ja auch wirklich Radio- und Fernsehtechniker ist!

Paula Beer als Marie Weidel in »Transit« als Marie Weidel © Schramm Film// Marco Krüger

Ein anderer, besonders bemerkenswerter Moment in »Transit« ist das erste plötzliche Voice-over von Matthias Brandt, das in der Pressevorfühung während der Berlinale für einen hörbaren »Oh, was ist das nun?«-Moment gesorgt hatte und auch mich durchaus für einen kurzen Augenblick ziemlich verwirrte. Worum geht es Ihnen bei all diesen Verfremdungseffekten, die »Transit« bis zum Schluss beständig durchziehen?
»Er sagte mir, dass er den Heinz lange angeschaut hat«, heißt es da. Diese Stimme kommt ja erst nach einer guten halben Stunde, was natürlich nicht sehr gewöhnlich ist. Denn wenn man einen Film macht, wo es einen festen Erzähler gibt, dann beginnt der in der Regel auch schon am Anfang. Mir geht’s dabei auch darum, dass die Flüchtlinge niemanden haben, dem sie etwas erzählen können: Weder ihr Leben noch Ihre Wünsche, weil sie in den Orten, wo sind gerade sind, nur untereinander bleiben. Das ist hier in Berlin so, aber auch genauso an anderen Orten. In Hafenstädten wie Marseille sind es dagegen immer die Barkeeper als quasi athetische Beichtväter, die ihnen zuhören. Sind sie eigentlich die Hüter dieser Geschichten, sie kennen deren »oral histories«.

In Ihrem Film sieht das dann so aus, dass Matthias Brandt als Barkeeper gar nicht die Geschichte eines einzelnen Flüchtlings erzählt, sondern, dass er sie so erzählt, wie er sich das vorstellt…
Und dabei stimmt das gar nicht! Wenn er beispielsweise sagt: »Sie küssten sich», dann sieht man, dass sie sich gar nicht geküsst, sondern die Hände gehalten haben. Das ist eine falsche Zeugenschaft, die nicht wie ein allwissender Erzähler über der gesamten Geschichte steht.

Auch in unserer Realität wird ja den Geflüchteten eigentlich gar nicht zugehört. Sie können generell auch gar keinem ihre Geschichte wirklich erzählen…
Das wollen wir auch nicht, weil uns dann sofort in die Verantwortung nimmt. Wenn man beispielsweise jetzt all die traumatisierten Menschen, die aus den Kriegsgebieten in Syrien oder Afghanistan zu uns gekommen sind, nehmen: Die sind im Grunde psychisch schwersttraumatisiert. Denen muss man ja zuhören und ihnen eigentlich auch einen Raum geben, damit sie sich auch von all den Dingen entgiften können, die sie erlebt hatten. Nur wir wollen diese Geschichten gar nicht hören, weil all diese Geschichten uns nur noch mehr verantwortlich machen: Wir müssten uns kümmern! Und wir wollen uns nicht kümmern, also zumindest gibt es Gruppen und Strömungen in der politischen Welt, auch in Deutschland: Stichwort AfD und auch große Teile der CSU, der SPD, selbst bei den Linken, dass wir uns bitte sehr erst einmal um unsere eigenen Armen zu kümmern haben. Und dieses »Dass-man-nicht-verantwortlich-ist« oder besonders empathisch und mitgefühlig ist, spiegelt sich für mich auch in dieser Voice-over-Stimme wieder. ||

TRANSIT
Deutschland 2018 | Regie und Drehbuch: Christian Petzold
Mit: Franz Rogowski, Paula Beer u.a. | 102 Minuten
Kinostart: 5. April
Trailer

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