Herlinde Koelbls Bilder im Literaturhaus zeigen die Welt auf der Flucht und ihre Ankunft im Nirgendwo.

Ein Massenbild für das Schicksal des Einzelnen | © Herlinde Koelbl

Rund 65 Millionen Menschen sind laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen derzeit auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, (klimabedingter) Armut. So viele wie noch nie. Dabei finden neun von zehn Flüchtlingen nicht in der ersten Welt Aufnahme, sondern in Entwicklungsländern. Das entspricht einer Quote von 86 Prozent. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist also mitnichten ein europäisches, sondern ein globales Thema.

Es wird wieder wärmer, und so kehren langsam die Bilder zurück, die Europa so gerne ausblenden möchte. Genauso wenig wie sich jedoch das Mittelmeer einhegen lässt, helfen Grenzzäune gegen Bilder. Um Sichtbarmachung geht es auch Herlinde Koelbl in ihrem jüngsten Projekt »Refugees – eine Herausforderung für Europa«, das nach Stationen in Straßburg, Nancy und Berlin seit März im Literaturhaus Halt macht. Die Fotografin, in den 1990er Jahren einem breiten Publikum durch ihre Langzeitstudie von Politikern »Spuren der Macht – die Verwandlung des Menschen durch das Amt« bekannt geworden, versteht »Refugees« nach eigenem Bekunden als »Bestandsaufnahme und Dokumentation von Lebensumständen«.

Das Individuum im Fokus

Auf Initiative des Deutschen Botschafters beim Straßburger Europarat hat Koelbl zum »International Day of Refugees« im vergangenen Jahr ihre Ausstellung konzipiert. Dazu ist sie zuvor in viele Flüchtlingscamps und Aufnahmestätten in Griechenland, Italien und Deutschland gereist. Geleitet wurde sie dabei von der Frage, wie es für die Flüchtlinge weitergeht, »wenn die Schlaglichter von dramatischen Situationen des Ankommens erloschen sind und das alltägliche Leben beginnt«. Wie immer bei Koelbl, so steht also auch in ihrem jüngsten Projekt das Individuum im Fokus. Selbst dann, wenn es auf einigen Fotografien gar nicht zu sehen ist. Eines der eindrücklichsten Bilder ist auf der Insel Lesbos entstanden und zeigt ein Meer aus Schwimmwesten. Hinter jeder der orangefarbigen Plastikwesten, die müllberghoch im Landesinneren vor sich hin gammeln, steckt ein Mensch mit einem Schicksal.

Wie geht das Leben der Flüchtlinge nach ihrer Ankunft weiter? Die Tragik besteht darin, dass es sehr häufig zum Stillstand kommt. Herlinde Koelbl hat diese Tatsache in ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung in den Satz gefasst: »Sie sitzen da und warten und warten und warten.« Durchschnittlich, so erfuhr man zudem an diesem Abend von der langjährigen Sprecherin der UN-Flüchtlingshilfe, Melissa Fleming, bleibt ein Flüchtling, egal wo auf der Welt, rund 20 Jahre in einem Camp. »Es sind Aufbewahrungslager.« Viele der rund 100 Arbeiten Koelbls zeigen daher, wie sich die Geflohenen in ihren Unterkünften notdürftig häuslich einrichten und etwa durch ein kleines Kräuterbeet zumindest einen Hauch von Normalität herstellen. Seien die Umstände auch noch so widrig, wie etwa im Camp Moria auf Lesbos, das für die Presse geschlossen ist und das Koelbl nur dank Empfehlungsschreiben betreten durfte. Oder in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien, wo die Menschen in einem »wilden« Camp nicht mehr als hausen. Zäune, Stacheldraht, ein kleiner improvisierter Friedhof, dahinter Zelte, in die sich Familien drängen und zwängen.

Der Ursprung des Mitteleuropäers

Eine Privatsphäre existiert an diesen Orten so gut wie nicht, und doch suchen die Menschen für sich Momente des Rückzugs und der Stille. Eine Fotografie zeigt eine Frau, wie sie nachts im Zelt liest, auf einer anderen lackiert sich ein Mädchen die Fußnägel. Auch wenn die Infrastruktur für Flüchtlinge in
Deutschland mit seinen stillgelegten Kasernen und Hallen wesentlich besser als in Griechenland ist, so zeigt sich doch ein ähnliches Bild: Der Versuch etwa, es sich in den fünf mal fünf Meter großen Waben, die Familien in der Berliner Kongresshalle ICC Wand an Wand zur Verfügung stehen, wohnlich zu machen. Dabei beschränkt sich das persönliche Hab und Gut nur mehr auf wenige kleine Gegenstände, die allermeisten Erinnerungen befinden sich auf dem Smartphone.

Die Arbeiten bestechen mitunter gerade durch den soziologisch-nüchternen Blick, der Koelbl zur Chronistin und die Ausstellung in ihren eigenen Worten »zu einem Zeitdokument über eine wichtige Periode in Europa macht, die noch lange nicht zu Ende ist.« Ergänzt werden die mal klein-, mal großformatigen Aufnahmen, die indirekt auch stets zu fragen scheinen, wie es wohl wäre, wenn wir die Flüchtlinge wären, durch ein Video, in denen die Porträtierten zu Wort kommen. Ausgewählte Zitate ordnen das Thema in einen größeren Kontext ein. »Die massivste Migration in Europa«, erfährt man da von Detlef Gronenborn vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz, »fand mit dem Beginn der Landwirtschaft vor 7000 Jahren statt. Diese ersten Bauern stammten aus dem Raum der heutigen Osttürkei und Syrien, kamen über Westanatolien, Griechenland und den Balkan bis ins heutige Deutschland / Mitteleuropa (…). Seit dieser Zeit vor 7000 Jahren lassen sich in manchen Regionen Mitteleuropas bis zu
80 Prozent der Menschen auf eine ursprünglich nahöstliche Herkunft zurückführen.« ||

REFUGEES – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR EUROPA
FOTOGRAFIEN VON HERLINDE KOELBL
Literaturhaus, Galerie | Mo–Mi & Fr 11–19 Uhr, Do 11–21.30 Uhr, Sa/So/Feiertage 10–18 Uhr
Begleitheft zur Ausstellung 4,50 Euro | bis 7. Mai 2017

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