Die Villa Stuck zeigt zwei Ausstellungen, in denen wiederverwendete Materialien groß herauskommen: Gustav Mesmer konstruierte Flugmaschinen, und Misha Kahn erfindet ein fantastisches Zeitalter.

Gustav Mesmer / Misha Khan

Träume vom Fliegen und die kapriziöse Ära

gustav mesmer

Misha Kahn: »Spaghettification: Tested by Throwing Against Wall« | 2020 | Mohair, 310 x 330 cm | © Courtesy of Friedman Benda and Misha Kahn, Foto: Thys Dullart

Ein originelles Kontrastprogramm präsentiert uns derzeit die Villa Stuck mit ihren beiden Ausstellungen in Ateliertrakt und Altbau. Der schwäbische Erfinder-Künstler Gustav Mesmer (1903–1994), auch »Ikarus vom Lautertal« genannt, wird mit vielen fantastischen Zeichnungen, Musik- und Sprechinstrumenten sowie Flugobjekten aus samt und sonders gefundenen, gebrauchten Materialien im Atelier vorgestellt. Misha Kahn (geb. 1989 in Duluth), amerikanischer Künstler-DesignerBildhauer, hat dem edel-imposanten, aber auch altertümlichen Gesamtkunstwerk des Malerfürsten Franz von Stuck (1863 –1928) eine moderne farbenprächtige Welt aus bizarren Kunststoff- und Abfallskulpturen, mysteriösen Möbelwesen, bunten Leuchtenkreationen und von Robotern angefertigten Bildern entgegengesetzt. Farblich und auch in der Expressivität passt das freilich gut in Stucks Welt. So steht etwa ein verspielter, in Regenbogenfarben gehaltener Kunststofftisch in direkter Nachbarschaft von Stucks Bild »Regenbogenlandschaft« von 1927.

Aber Kahn und seiner Kuratorin Kellie Riggs geht es um mehr als ästhetische Referenzen. Sie erzählen eine Geschichte, die man über den Audioguide (der auch auf der Website der Villa Stuck anzuhören ist) oder mit dem begleitenden Booklet gut nachvollziehen kann. Es handelt sich um das, freilich fiktive, »Kapriziöse Zeitalter«, eine schön verrückte Zwischenwelt aus analogem und digitalem Zeitalter. Im Intro liest man über den Beginn einer neuen Ära, die geprägt ist von extremen Unsicherheiten und Ängsten wegen menschengemachter Klimakatastrophen im Heute und Morgen. Eine Neubewertung der Beziehung der Menschen zu Natur, Technologie, Zeit und zu sich selbst findet statt. Und die Gegenstände, die Kahn in die Villa implantiert hat, sind Symbole dieser von ihm fantasierten Epoche. Ausdrücken sollen sie eine bestimmte Anspannung, ein Ringen um Vernunft und Kampf mit der Ordnung, dem Erstaunen und der Verwirrung. Gleichzeitig aber darf das bislang geübte, von Konsumgier, Unterhaltungszwang, ständiger Erregung und Sinnesrausch geprägte Dasein nicht vernachlässigt werden.

Schätze aus Müll

gustav mesmer

Misha Kahn: »Malkern’s Ghost« | 2017 | Fundstücke, Mixed Media, Keramikperlen, Gras, handgefärbte Gräser und Fasern | 249 x 198 x 92 cm | © Courtesy of Friedman Benda and Misha Kahn, Foto: Daniel Kukla

Was das nun konkret bedeutet, zeigen etwa die Arbeiten im Empfangssalon. »Malkern’s Ghost«, ein düsterer Klumpen, besteht unter anderem aus nachhaltig geernteten Gräsern, Sisal, abgefallenen Aloeblättern sowie Stoffresten, Totholz, Auto- und Haushaltsschrott, Deponiematerial – aber auch schmucken handgefertigten Keramikperlen, Tierknochen oder Hornresten. »Bounty of Refuse«, eine »Fülle an Müll«, nennt er das, wozu er auch angeschwemmten und eigenhändig gesammelten Abfall vom New Yorker Strand verwendete. Kahns Frage dahinter: »Was wäre, wenn wir den von uns täglich produzierten Müll als etwas Kostbares betrachten würden?«

Schier grenzenlose Experimentierfreude, viel Witz, Humor und Hintersinn sowie Respektlosigkeit und Spontaneität charakterisieren diese Werke – aber auch Seriosität. Was man so erst mal nicht erwarten würde. Schmuckstücke und Uhren entstehen etwa gemeinsam mit anerkannten Koryphäen der jeweiligen Zunft. Das bedeutet, dass die Objekte wirklich funktionstüchtig sind. Kahns vielgerühmte Wandteppiche, die »Woven Scrappy Series«, wurden von erfahrenen, traditionellen Weberinnen aus Swasiland handwerklich gefertigt, zeichnen sich aber durch moderne Motive aus. Nicht zuletzt nutzt Kahn auf diese Weise viele Gelegenheiten, um von anderen Meister:innen ihres Faches zu lernen.

Kleiner Flugverkehr

gustav mesmer

Gustav Mesmer bei einem seiner Flugversuche | © Franco Zehnder

Wer nun Lust auf noch mehr grenzenüberschreitende Fantasie und unlogische Nonkonformität bekommen hat, kann im Ateliertrakt mit der Gustav-Mesmer-Schau gleich weitermachen. So einfach wie Kahn hatte es der in Altshausen geborene Oberschwabe allerdings nicht. Erst im Alter von 60 Jahren, inzwischen in einem Heim in Buttenhausen im Lautertal, konnte er seine bis dahin in zahlreichen Bildern, Skizzen, Zeichnungen und Texten beschriebenen, mit Muskelkraft betriebenen Flugfahrräder in selbst gebastelter Realität testen und weiterentwickeln. Zuvor war er 30 Jahre in psychiatrischen Anstalten. Er selber sagte dazu einmal: »Wo die Schule versagt, geht das ganze Leben einen Nebenweg.«

Bei Mesmer sah das so aus, dass er als eines von zehn Kindern seiner Familie nach einer Krankheit als 12-Jähriger die Schule verließ und als sogenannter Verdingbub auf Gutshöfen arbeitete. Schließlich trieb es ihn als Bruder Alexander ins legendäre Benediktinerkloster Beuron, das er allerdings nach sechs Jahren, kurz vor dem Gelübde, wieder verlassen musste – »bis alle Himmelsherrlichkeit zerfiel«. Für Mesmer war das Kloster so gesehen auch nicht die Erlösung. Zurück in Altshausen, wo er eine Schreinerlehre begann, begehrte er im März 1929 einmal richtig auf: mit fatalen Folgen. An einem Sonntagmorgen stürmte er in die Kirche und hielt vor der versammelten Konfirmations-Gemeinde eine als blasphemisch gedeutete Predigt, in der er erklärte, dass alles nur Schwindel sei, etwa mit dem Blut Christi. Die im Übereifer in einer tiefgläubigen ländlichen Region ohne Bedacht zelebrierte Abrechnung mit der Kirche bezeichnete Mesmer später einmal als einen »religiösen Unfall«. Der hinzugerufene Arzt sah es anders, wies den jungen Mann in die Psychiatrie Bad Schussenried ein, damals Nervenheilanstalt. Dort attestierte man ihm »Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen«. Die Diagnose änderte sich Jahrzehnte lang kaum mehr. Mesmer versuchte rauszukommen, floh 16 Mal aus der geschlossenen Anstalt, zuletzt 1945.

1932 entdeckte Mesmer in einer Illustrierten einen Bericht über den Versuch, mit einem Fahrrad zu fliegen. Das ließ ihn nicht mehr los. Von da an zeichnete und bastelte er Flugfahrräder und Schwingenflügel in allen erdenklichen Variationen. Bauen konnte er sie – wie auch seine gezeigten kuriosen Sprech- und Musikapparate – erst nach seiner Entlassung 1964. Aus Holz, Papier, Draht, Blech, Schnüren: Materialien, die er fand und wiederverwenden konnte. Das war damals avantgardistisch, in der neodadaistischen Kunst etwa, und ist heute en vogue. Geflogen ist übrigens nie eines von Mesmers Fahrrädern, aber bis nach Sevilla gekommen. In den Deutschen Pavillon auf der Expo 1992. Sein wohl größter Erfolg. Ergänzt wird die Mesmer-Ausstellung von einem Film und einem Hörspiel (von Andreas Ammer, Cico Beck, Micha und Markus Acher mit Mesmers Instrumenten und Maschinen) sowie begleitet von der musikalischen Veranstaltungsreihe »I hear a new World. Musikmaschinen + DIY-Sounds«, kuratiert von Markus und Micha Acher, die als Musiker von Notwist und anderen Projekten beste Bastel-Expertise haben. ||

GUSTAV MESMER. DER IKARUS VOM LAUTERTAL
bis 10. Juli
MISCHA KAHN. UNDER THE WOBBLE MOON. OBJECTS FROM THE CAPRICIOUS AGE
Museum Villa Stuck | Prinzregentenstr. 60
bis 21. August | Di bis So/Fei 11–18 Uhr
Rundgänge: 29. Juni; 6., 20., 27. Juli, 16.30 Uhr (Kahn); 22. Juni, 6. Juli, 16.30 Uhr (Mesmer) | Info und Tickets: www.villastuck.de | Das reich illustriertes Buch »Gustav Mesmer, Ikarus vom Lautertal« (550 Seiten, Edition Patrick Frei, Zürich) der Gustav Mesmer Stiftung kostet 83 Euro

Weitere Artikel über Ausstellungen in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: