Die opulente Schau »Civilization« mit internationaler Fotokunst nimmt in der Kunsthalle München unsere Zivilisation mit all ihren Erscheinungsformen in den Blick.

Civilization

Die Welt im Bild

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Eine Kathedrale der fossilen Energie, die Ölbohrinsel ist 60 Stockwerke hoch – Jo Choon Man:»GOLIAT«, 2013, aus der Serie »INDUSTRY KOREA« © Choon Man Jo

Es ist alles nur eine Frage der Perspektive. Aus dem Weltall betrachtet ist unsere Erde ein unscheinbarer Lichtpunkt zwischen Milliarden von Sternen. Die Fotoaufnahme, die die Raumsonde Voyager 1 im Jahr 1990 nach 13 Jahren Flug aus sechs Milliarden Kilometern Entfernung von der Erde aufgenommen hat, will uns suggerieren: Wir sind doch so klein und unbedeutend, was regen wir uns eigentlich auf. Dass wir auf das kleine Bild erst ganz am Ende der Ausstellung stoßen, nachdem wir die Errungenschaften unserer Zivilisation und deren nicht immer schöne Begleiterscheinungen in zahlreichen Facetten vor Augen geführt bekommen haben, kommt einem schon fast zynisch vor. Schließlich sind wir nicht im Weltall, sondern mittendrin im Getümmel von inzwischen acht Milliarden Menschen, die sich auf der gar nicht mal so kleinen Kugel Welt zu organisieren versuchen.

Wie weit wir damit – Stand heute – gekommen sind nach 12.000 Jahren Zivilisationsgeschichte, die mit den ersten Siedlungen, dem Anbau von Lebensmitteln und der Erfindung der Arbeitsteilung ihren Anfang nahm, ist einfach überwältigend. Diesen Eindruck vermittelt zumindest die überbordende Bilderschau mit 230 Fotoarbeiten von 110 internationalen FotokünstlerInnen, die in der Jubiläumsausstellung zum 40-jährigen Bestehen der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung unter der Überschrift »Civilization« und der allumfassenden Frage, »wie wir heute leben« zusammengetragen worden sind.

Dabei ist die Ausstellung nicht neu. Das Kooperationsprojekt der Foundation for the Exhibition of Photography, Minneapolis/Lausanne mit dem National Museum of Modern and Contemporary Art, Seoul, tourt seit 2018 um den Globus. Da sich die Weltlage seitdem aber stark gewandelt hat – man denke an Corona und die gegenwärtigen Kriege – wurde die Münchner Präsentation durch eine ganze Reihe aktueller, teils eigens beauftragter Werke ergänzt. Unverändert aber blieb die Idee, »den Fokus vom Werk einzelner FotografInnen zu lösen und einen umfassenden Blick auf das zu werfen, was sie gemeinsam geschaffen haben«, wie es im Vorwort zum Katalog heißt. Das Ergebnis ist eine Standortbestimmung über den Zustand der globalen Zivilisation des frühen 21. Jahrhunderts aus ganz unterschiedlichen künstlerischen Perspektiven. Das Problem dabei: Man ist schon bald visuell überfordert angesichts dieses riesigen Konvoluts an großformatigen Megafotografien mit ihrer Detaildichte und inhaltlichen Intensität, diesen ganzen teils real aufgenommenen, teils mit digitalen Mitteln simulierten, höchst eindrucksvollen Inszenierungen der Fotokunst. Die künstlerische Würdigung jedes einzelnen dieser großartigen Exponate kommt dabei zwangsläufig zu kurz.

Schon der Anfang lässt erahnen, was auf einen zukommt: Mit Candida Höfer und Thomas Struth eröffnen zwei Giganten der Fotokunst den Parcours, die mit ihren großformatigen Aufnahmen von der Bibliothek des barocken Augustiner Chorherrenstift Sankt Florian bei Linz (2014) sowie dem Pergamonaltar im Pergamonmuseum in Berlin (2001) für das Wissen unserer Zivilisation stehen. Dass sich dieses heute auf ein anderes Medium verlagert hat, wird später in der Ausstellung die junge Fotografin Julia Chamberlain mit ihrer subtilen Bildserie »Touch Archive« (2025) zeigen: Die verschiedenen Wischspuren auf dem Display ihres Handys bezeugen unseren permanenten Austausch mit der Welt.

Was ist das überhaupt – Zivilisation? In der Ausstellung ist damit die Menschheit als Ganzes gemeint, die Summe aller Zivilisationen mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Errungenschaften. Dass wir vor allem ein gigantischer »Bienenstock« sind, wird einem nicht nur im so bezeichneten ersten Kapitel vor Augen geführt, sondern in der ganzen Ausstellung: eine Masse Mensch, die Cyril Porchets in seiner Aufnahme aus der Serie »Crowd« (2024) digital zu einem undurchdringlichen Strudel verwirbelt; eine Anhäufung von Individuen, die in der Luftaufnahme vom Olympiagelände während des Taylor-Swift-Konzerts zum undurchdringlichen Patchworkteppich wird (Manuel Picker, 2024). Wir hausen in Megacitys mit mehreren Millionen Einwohnern, die aus der Vogelperspektive wie unendliche Stein wüsten wirken (Pablo López Luz, »Mexiko-City«, 2006); wir wohnen in gesichtslosen Hochhäusern, die sich im Blick durch die Kamera zu gleichförmigen geometrisch-abstrakten Legebatterien verdichten (Michael Wolf, »Architecture of Density«, 2006). Und die Masse macht selbst vor dem Mount Everest nicht halt: Die Luftaufnahme von Giles Price (2015) zeigt das Base Camp 1 in Nepal, dessen Zelte und Behausungen für die Bergsteigertouristen sich inzwischen auf 1,5 Kilometer Länge erstreckt.

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Sean Hemmerle: »Brooks Brothers, World Trade Center, New York, 12. September 2001« | 2001 | © Sean Hemmerle

Den vielen gegenüber stehen die Einzelnen, gefangen in ihrem Schicksal. Da ist etwa die Pornodarstellerin in der Aufnahme von Larry Sultan (2001), die mit versonnenem Blick auf ihren nächsten Einsatz wartet. Da sind die Protagonisten der Social-Media-Generation, die von Evan Baden (2010) bei ihren intimen Selbstdarstellungen beobachtet werden. Da ist die Opernsängerin Laura Baldassari, die während Corona an einer Haustür stehend die (vermutlich) leere Straße zur Bühne macht. (Alex Majoli »Lass mich weinen«, aus der Serie »Covid«, 2020).

Doch was hat der Mensch nicht alles geschaffen. Die Überwältigungsstrategie der Fotokunst, mit der die Ausstellung arbeitet, geht auch in der Darstellung technologischer Anlagen auf: Sei es das Flutwasserkanalsystem Tokios, das in der monumentalen Aufnahme von Vincent Fournier (2009) zur Kathedrale wird, sei es die Radaranlage in Norwegen, die als blendend weißes Kunstbild Eindruck schindet (Gregor Sailer, »MAARSY«, 2020), oder die amerikanische Raffinerie, die Mitch Epstein (2007) zum ziselierten skulpturalen Objekt werden lässt. Drei Motive, die wie viele andere auch von den FotografInnen ästhetisch überhöht und monumental vergrößert als eindrucksvolle, cleane Kunstbilder daherkommen.

So werden – aus der Vogelperspektive betrachtet – auch unsere zivilisatorischen Systeme zu dekorativen Strukturbildern: Da sind die in Reih und Glied Betenden in einer Moschee in Indonesien (Ahmad Zamroni, 2007), die Menge an ordentlich gelagerten Schiffscontainern (Alex Maclean, 2007) oder die geometrisch perfekt verschlungenen Autobahnkreuzungen in Kalifornien (Christoph Gielen, 2008). Selbst die Carts im chinesischen Golfresort sind mit militaristischer Genauigkeit in Position gebracht (Andrew Rowat, 2011).

Dennoch, die Errungenschaften der Zivilisation sind keineswegs nur rosig, auch wenn uns das die Hochglanzwelt der Fotokunst auch suggerieren mag. Ein wenig verharmlosend unter dem Kapitel »Brüche« finden sich Themen wie Flüchtlinge, Klimawandel, Plastikmüll verhandelt, oft trotz aller Bildästhetik eindrücklich und auf subtile Weise direkt: Die Darstellung des Gitterzauns zwischen Mexiko und den USA lässt die Not der dahinter stehenden Mutter und der Tochter durch seine Strukturen erahnen (Alejandro Cartagna, 2017). Oder der 11. September 2001: Man sieht die zerstörten Verkaufsräume eines New Yorker Herrenausstatters, während sich hinter den zerborstenen Scheiben Chaos und Zerstörung auftun (Sean Hemmerle, 2001). Faszinierend auch die überbordende Fototapete »OVER« (2023): In einer Collage aus Tausenden von Einzelfotos hat Cássio Vasconcellos einen riesigen Metallschrottplatz konstruiert – abgetakelte Schiffe, Flugzeuge, Autos, alles fügt sich zu einem gigantischen Mosaik. Außerdem berührend die Fotoserie von verlassenen Schlafzimmern der im Irak gefallenen amerikanischen Soldaten (Ashley Gilbertson, 2010), irritierend die hochästhetischen Stillleben von internationalen Streuminen, die vor dunklem Hintergrund perfekt ausgeleuchtet in Szene gesetzt sind (Raphael Dallaporta, 2004), und technisch faszinierend die Bildpanoramen zu Protestbewegungen: Mit dem analogen Mittel der Fotoüberblendung erweitert Magnus Arrevad die der Fotografie eigene Verdichtung um die dynamische Dimension von Zeit und Raum (»Black Lives Matter«, 2020, »Ukraine«, 2022).

Und was kommt »als nächstes«? Das so überschriebene Abschlusskapitel widmet sich den rasanten technologischen Entwicklungen: Robotik, KI, Avatare, die einen das Gruseln lehren. Oder wir machen uns doch auf den Weg in den Weltraum und lassen die Erde mit all ihren Problemen einfach so weit hinter uns, bis sie nur noch als unscheinbarer kleiner Lichtpunkt zwischen Milliarden von Sternen aufleuchtet. ||

CIVILIZATION: WIE WIR HEUTE LEBEN
Kunsthalle München | Theatinerstr. 8 | bis 24. August | täglich 10–20 Uhr | Die Begleitpublikation (132 Seiten und ca. 150 Farbabb., 20 Euro) ist nur in der Kunsthalle erhältlich | Das reichhaltige Begleitprogramm mit Führungen, Vorträgen, Filmen, musikalischen und kulinarischen Events sowie Kinder- und Jugendprogramm siehe online.

Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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