Die Ausstellung »Kafkas Spiele« im Sudetendeutschen Haus nähert sich dessen Werk auf ganz besondere Weise.
Kafkas Spiele
Schnapsglas und Schneefall

Kafka mit Freunden (dem Dichter Albert Ehrenstein, dem Schriftsteller und Übersetzer Otto Pick und der Zionistin Lise Kaznelson) im Wiener Prater, 1913 © Archiv Klaus Wagenbach
Der Erzähler trinkt noch drei Gläschen Kräuterlikör, der neue Bekannte erzählt, dass er geküsst hat. Damit beginnt der mitternächtliche Spaziergang in Kafkas »Beschreibung eines Kampfes«, einer Erzählung von Unglück und Glück. »Auf dem Boden lag ein zarter Schnee. Die Füße glitten aus beim Gehn, daher musste man kleine Schritte tun. Kaum waren wir ins Freie getreten, als ich offenbar in große Munterkeit geriet. Ich hob die Beine übermütig und ließ die Gelenke lustig knacken, ich rief über die Gasse einen Namen hin, als sei mir ein Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fing ihn prahlerisch auf.« In der Kafka-Ausstellung ist diese Geschichte in eine Video-Animation übersetzt, die die Prager Topographie und erzählte Ereignisse zeichentrickhaft zusammenführt. Und ein Videospiel – »Playing Kafka« – lehnt sich in drei Teilen an Kafkas »Der Prozess«, »Brief an den Vater« und »Das Schloß« an.
Spiel ist eine spezielle Weise der Kommunikation und Interaktion mit anderen oder mit sich selbst. Und schwer zu definieren. Im Althochdeutschen bedeutet »Spil« übrigens »Tanzbewegung«, was auf Kafkas Spaziergänger und vielleicht auch seine Erzählstrategien passen könnte. Jedenfalls hat sich die Ausstellung des Prager Literaturmuseums, die der Adalbert Stifter Verein in erweiterter Form präsentiert, das Spiel und das Spielerische bei Kafka vorgenommen als Zugang zum vielleicht bedeutendsten, weltweit meistgelesenen deutschsprachigen Autor der Moderne.
Dass die Person Kafka nicht als schwermütiger Mensch im Unglück zu sehen ist, sondern sehr viel Humor hatte, oft lachte, ist schon seit Längerem bekannt; und auf das eben nicht nur ausweglos Düstere, Abgründige seines Werks, sondern Humorvolle, Spielerische, intrikat Witzige seines Schreibens haben seit Klaus Wagenbach viele hingewiesen. In der Ausstellung und im Begleitblatt wird denn auch gleich Kafkas Freund, der blinde Dichter Oskar Baum, zitiert, Kafka sei eben kein »weltabgewandter, von unglücklichen Träumen und bizarren Phantasien verzehrter Mensch gewesen«.

Kafka in jungen Jahren, im Prager Fotoatelier M. Klempfner © Literární archiv PNP, Prag
Welche Spiele lassen sich nun in der Ausstellung entdecken und mitspielen? Vorwiegend widmet sie sich dem Werk, also den Erzähltexten, Tagebüchern, Briefen, mit ihrem »spielerischen Umgang mit der erlebten Angst und der prekären Existenz des modernen Menschen«. Oder, wie Baum 1937 schrieb: »Die Anmut dieses Stils, die Unterströmung von Humor, auch im tiefsten Ernst, zeugt von der unbesieglichen Freiheit, der schöpferischen Distanz des genialen Menschen zum persönlich Erlittenen und Erlebten, die mit der intimen Beziehung zum Erfunden, Geschaffenen in eine Linie gerät.« Bezug genommen wird auch auf Kino, Kabarett und Amüsement. Im Werk: Spiele in der dargestellten Welt der Texte oder als Sprachspiele der Figurenreden oder Sprachspiele in den Erzählstrategien selbst, wo Perspektiven wechseln, Reales, Imaginiertes und Irreales oszillieren. Das sind »Spiele mit dem Leser«, was am Beispiel der »Odradek«-Geschichte »Die Sorge des Hausvaters« als eigener Punkt 5 gebucht wird.
Dass mit den Texten wiederum kreativ weitergespielt wird, indem sie in andere Sprachen oder aber in musikalische Kompositionen (zu hören ist auch eine von seinem Freund Max Brod!) übersetzt werden oder von Illustrationen begleitet, das wird unter dem letzten Punkt 6 zusammengefasst. Kafka wollte übrigens seinerzeit nicht, dass das Insekt in »Die Verwandlung« abgebildet wird. Hübsche Beispiele von Illustrationen tschechischer KafkaAusgaben lassen sich auf diesem Parcours entdecken, aber diese Literaturausstellung will auch spielerische Interaktionen anregen. Ausgewählte Tagebuchtexte hängen an Fäden vor einer Spiegelwand: doppelseitig, einmal in Kafkas Handschrift, einmal in Druckschrift, wäre letztere in Spiegelschrift reproduziert, hätte man sich selbst beim Entziffern zuschauen können.

Vladimír Holub: »Franz Kafka / Delirante Vision« | 1962 | Collage, Tusche | © US PNP/ML, Prag
Literaturausstellungen bieten traditionell gerne auch Sensationen von Originalen. Während die Kafka-Schau im Museum Villa Stuck 2023/24 Kafka als Leser und Verschenker von Büchern präsentierte, wurde zum Ende des Kafka-Jahrs hier hinter Glas eine imposante Rekonstruktion von Kafkas Bibliothek aufgetürmt (in entsprechenden Originalausgaben). Wobei auch originale Handschriften als Reliquien und Fetische nicht fehlen. Gegenüber der animierten Relief-Wand der Prager-Spaziergang-Animation liegen Schreiben Dr. Kafkas in einer Vitrine: seine »Bewerbung als Praktikant« an den Vorstand der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt, einmal auf Deutsch, einmal auf Tschechisch (dem Zweisprachigkeits-Prinzip der Ausstellung entsprechend), dann einen Monat später und einen Karriereschritt weiter im September 1909 ein »Entschuldigungsschreiben wegen möglichen Fernbleibens vom Büro« – dabei ging Kafka nicht ungern zur Arbeit.
Dass Kafkas Schreiben nicht in die Kunstideologie des NS und eines totalitären Kommunismus passte, ist bekannt. Kafkas Werke zu verlegen oder zu verfilmen war in der Tschechoslowakei ein Politikum, ebenso die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihm: die Kafka-Konferenz 1963 läutete den Prager Frühling mit ein, nach dessen Niederschlagung 1968 Kafka wieder verboten wurde.

Otto Coester: Blatt aus dem Zyklus »Franz Kafka Die Verwandlung« 1929 | Radierung | © US PNP/ML, Prag
Kafka in der Graphic Novel
Vielleicht Kafkas letztes Spiel ist der hier zu sehende Brief an die Eltern vom 2. Juni 1924, in dem er diskutiert, was gegen einen Besuch der Familie im Sanatorium spricht, freilich: »Alles ist in den besten Anfängen –«. Einen Tag später war Kafka tot. Es empfiehlt sich auch im Thomas-Mann-Jahr weiter Kafka zu lesen; Mann notierte 1935: »Ich möchte sagen, daß K.’s Hinterlassenschaft die genialste deutsche Prosa seit Jahrzehnten ist. Was gibt es denn auf deutsch, was daneben nicht Spießerei wäre?«. Den Begriff wiederum hätte Kafka wohl nicht benutzt.. ||
KAFKAS SPIELE
Sudetendeutsches Haus | Hochstr. 8 | bis 2. Februar | Di–So 10–18 Uhr | unter 18 Jahren Eintritt frei | »Ich stehe auf einem verwüsteten Boden« – szenisch-musikalische Rezitation: 23. Jan., 19 Uhr (Eintritt frei) | »Playing Kafka« – Videospiel: 29. Jan., 16–18.30 Uhr (in der Stadtbibliothek im Motorama, gratis)
Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Bücher für Weihnachten: Unser Best of
Joe Sacco: Geschwister-Scholl-Preis für Graphic Novel-Autor
Celestino Piatti: Zum 100. Geburtstag
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton