Während Münchens klamme Kassen den städtischen Kulturinstitutionen finanziell schwere Bauchschmerzen bereiten, ist von Kürzungen bei den Bayerischen Staatstheatern noch nichts durchgedrungen. Das Residenztheater geht die Saison mit zwei Klassikern, Shakespeares »Sommernachtstraum« und Ibsens »Wildente«, an. Highlight ist aber ein absurdes Denkspiel im Marstall.
Premieren am Residenztheater
Albtraum, Wunder Lebenslügen
EIN SOMMERNACHTSTRAUM
Eine heitere Komödie war das nie. Sondern ein böses Spiel über verschmähte oder fehlgeleitete Liebe, über grausame Demütigung, Täuschung und Enttäuschung, dessen vierfaches Happy End mit mehr oder minder subtiler Gewalt erzwungen ist. So ist Shakespeares »Sommernachtstraum« auch in der Lesart von Stephan Kimmig, der die Saisoneröffnung im Residenztheater inszenierte. Großartig die Drehbühne von Katja Haß: verschiedene offene Räume mit Betonwänden und Love-Graffiti, versiffte Stadtbrache als Lost Place, eine geflieste Waschküche, eine sienarote Wandmalerei mit bedrohlichen Fabeltieren zwischen Pferd und Drache. Die flirrenden Stadtvideos von Mirko Borscht machen die Szene öfter zum Vexierbild.
Kimmig holt die irdischen Figuren rigoros ins Heute. Das Werben des Athen-Herrschers Theseus um die unterlegene Amazonenfürstin Hippolyta gerät hier zur Fusion zweier Autohäuser: Theseus Wesselmann empfängt mit aller gebotenen Höflichkeit die Chefin Heidrun Hippolyta des Autohauses Klein. Ob es einefeindliche Übernahme ist, bleibt ungeklärt. Die Annäherung beider endet stets zögerlichverklemmt vor einem Kuss. Lea Ruckpaul und Lukas Rüppel zelebrieren das sehr komisch. Sie spielen auch das zerstrittene Feenkönigspaar Oberon und Titania, dezent fantasymäßig ausstaffiert von Anja Rabes. Ihr Streitobjekt, das Titania liebt und der eifersüchtige Oberon gerne hätte, heißt hier nur »das Ding« (bei Shakespeare ist es ein exotischer Knabe). Zur Strafe soll Titania per Droge eine schwere Sinnestäuschung erleben. Oberons Dealer Puck ist bei Max Rothbart kein allzeit gefälliger Diener, sondern ein melancholischmysteriöser Zeitgenosse, androgyn in schwarzem Outfit mit Goldkettchen, mal singt er im Pelzmantel »I’ll take care of you«. Fast ein widerwilliger Todesengel, der auch Athens Punkjugend mit Stoff versorgt. Hermia (Linda Blümchen), die Tochter des Buchhalters Egeus (Thomas Reisinger), soll Demetrius heiraten, liebt aber Lysander (Vincent zur Linden). Auf den ist noch immer seine Ex Helena, Hermias Freundin, scharf. Die wiederum zu ihrem Verdruss von Demetrius mit Liebe verfolgt wird. Diese Viererbande wirbelt der Regisseur crossgendergerecht durcheinander.
Aus Demetrius wird die arrogante, sadistische Demetria (Vassilissa Reznikoff), aus Helena der buchstäblich hündisch ergebene Masochist Helmut (Niklas Mitteregger). Bei Shakespeare führt die Flucht vor der Zwangsheirat in den Wald, der ist bei Kimmig die verwilderte Großstadtbrache. Oberon will die Liebeshändel ordnen, aber Puck vertut sich bei der Drogenabgabe. Alles läuft quer, die vorher Begehrte wird verachtet, die Verschmähte umworben, die Männer hetzen verfeindet durch den Nebel, die Weiber kriegen sich in die Haare. Manchmal geistert auch eine zart singende Elfe (Felicia ChinMalenski) durch diesen Albtraum auf Koks.
Das komödiantische Gegenstück bilden die biederen Handwerker, die zur geplanten Feier das Theaterstück »Pyramus und Thisbe« zeigen wollen. Für Schauspieler die Gelegenheit zu Klamotte vom Feinsten. Barbara Horvath wird als Probenleiterin genervt von Pujan Sadri, Patrick Isermeyer und Delschad Numan Khorschid, die woke Triggerwarnungen für nötig halten. Schamlos absahnen mit allen Mitteln der Schmiere darf Florian von Manteuffel als eitler Zettel, der am liebsten alles, auch den Löwen, spielen würde. Pucks Droge macht ihn als Esel im spermabeschmierten Hauttrikot mit gehöriger Ausbeulung zu Titanias Sexobjekt – Schöneres haben beide nie erlebt. Oberon, derseine Rache genießen wollte, sieht der Ekstase seiner Frau immer entgeisterter und betroffener zu, Lukas Rüppel versinkt vor Scham in seinem Mantel. Kimmig hat eine Farce inszeniert, teils schrill und grell, sehr körperlich in den Gewaltszenen und in der Sprache zeitgeistig an Jugendjargon angepasst. Bunt, unterhaltsam, teils sehr komisch mit Schauspielern, die ihre Spiellust ausleben. Kann man mögen. Oder – je nach Alter – auch nicht.
DIE WILDENTE
Der Norweger Henrik Ibsen schrieb seinem Verleger, »Die Wildente« handele ausschließlich vom Familienleben. Sein 39-jähriger Landsmann Johannes Holmen Dahl sieht in dem Stück von 1895 auch Gesellschaftspolitisches: die Auflösung des Mittelstands durch den Kapitalismus. Aber so richtig einlösen will das seine Inszenierung im Cuvilliéstheater nicht, mit der Dahl sein DeutschlandDebüt gibt. Sie bleibt Familiendrama.
Die Cuvilliés-Bühne (von Nia Damerell) ist so leer, als hätte der städtische Sparkurs auch sie erwischt (was nicht der Fall ist): Nur links vorne ein Schlagzeug, an dem Teresa Müllner den emotionalen Drive vorgibt. Nach Jahren kehrt Gregers, Sohn des Fabrikbesitzers Werle, zurück in seine Heimatstadt zur Hochzeit seines Vaters mit dessen realitätsklarer Haushälterin (Nicola Kirsch). Sein Jugendfreund Hjalmar Ekdal ist eine verkrachte Existenz, ein erfolgloser Fotograf, der an einer ominösen Erfindung tüftelt. Dessen 14jährige Tochter Hedwig pflegt auf dem Dachboden eine verletzte Wildente. Hjalmars pragmatische Frau
Gina sorgt fürs Einkommen und hält die Familie zusammen. Dazu gehört auch Hjalmars Vater, der im Kaninchenstall auf die Jagd geht. Als diesen abgerissenen, knurrigen Alten sieht man endlich wieder Oliver Nägele als Gast vom Burgtheater. Anna Drexler ist nach sechs Jahren in Bochum fest ans Resi zurückgekehrt. Sie verleiht ihrer Gina Bodenständigkeit und Gefühlstiefe, gibt trotz besseren Wissens ihrem Mann Halt und Gauben an seine Erfindung. Der linkischtäppische Hjalmar von Simon Zagermann ist ein lebensuntauglicher Tagträumer, der Frau und Tochter innig liebt. Diesen Zusammenhalt sprengt Gregers mit seinem Verdacht, Hedwig sei die Tochter seines Vaters. Denn Gina war vor 15 Jahren dessen Haushälterin, und der alte Werle (jovial: Oliver Stokowski) alimentiert seitdem heimlich die Familie. Der Fundamentalist Gregers will durch Aufklärung dem Freund zu einem Leben ohne Lügen verhelfen. Florian Jahr steht leider meist unbeteiligt und unbewegt herum, Hände stramm an der Hosennaht, ein Zinnsoldat seines Gerechtigkeitsfanatismus.
Der Langeweile verbreitet, weil er nicht spielen darf. Da versagt Dahls sonst präzise Psychologisierung, er lässt auch seinem Team nur wenig Aktionsmöglichkeiten. Opfer des Wahrheitswahns wird Hedwig. Naffie Janha verkörpert überzeugend kindliche Spiellust, Wissensneugier über »tiefste Tiefen«, Liebe zu Lebewesen, Intuition. Als der Vater sieabweist, will sie als Liebesbeweis ihre Wildente opfern. Und opfert sich selbst. Am Ende öffnet sich hinten eine Tür. Zu spät für einen Ausweg aus der Zerstörung. Der ziemlich schräge Arzt Relling (Max Mayer) hätte Rettung gewusst: »Ein Mittel zur Stärkung der Lebenslügen.« ||
UND ODER ODER…
Beim Lesen kann man sich nicht vorstellen, wie man diesen Text von Nele Stuhler inszenieren will. Der vollständige Titel »Und oder oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und« (das heißt wirklich so!) lässt ahnen, dass es immer so weitergeht mit Dichotomien und zunehmend komplexeren Gegensatz-Wortpaaren. Aber Nele Stuhler hat ihre Textpartitur zusammen mit dem Regisseur FX Mayr für die StückeWerkstatt der Mülheimer Theatertage entwickelt, und FX Mayr macht im Marstall daraus ein kleines Theaterwunder. Mit einem Minimum an Ausstattung (Bühne und Kostüme: Korbinian Schmidt) und dem fabelhaften Trio Robert Dölle, Pia Händler und Myriam Schröder zaubert er in seiner Uraufführung 90 Minuten subtile Komik mit clownesken Anklängen auf die Bühne.
Links ein runder Teppich, rechts ein schwebender Leuchtkasten. Robert Dölle, Pia Händler und Myriam Schröder tragen Tisch und Stühle herein, lesen aus Textbüchern. Ihre Gesichter sind zweifarbig geschminkt. Aus einfachen Wortpaaren wie Ja – Nein, Da – Weg, Rein – Raus werden kompliziertere, ohne Textbuch. Ist Hass das Gegenteil von Liebe, oder doch eher Gleichgültigkeit? Ist es cool oder doof, im Wald in eine Tüte zu kacken? Ein Regen stört, rein, raus für die Darsteller*innen. Sie breiten Landkarten aus, diskutieren über Schrifttafeln, was witzig ist und was ernst. Pia Händler schleppt auf dem Rücken ein Redepult herein, an dem sie leidenschaftlich und verzweifelt über Freiheit und Verantwortung grübelt. Aus scheinbarem Unsinn erwachsen Sinnfragen. Das ist nicht spitzfindig sophistisch, sondern Anregung zum Nachdenken. Sind wir klug und ihr doof? Oder umgekehrt, weil ihr das denkt? Etwas Dada, eine Bachmann-Anspielung, mal jandlt es. Ein Riesentuch an der Rückwand mischt sich ins Spiel. Den wunderbaren Schauspieler*innen schaut man gebannt zu und verstrickt sich immer mehr in die klugen Denkspiele der Autorin. Rundum ein Vergnügen.
EIN SOMMERNACHTSTRAUM
Residenztheater | 16., 31. Dez. | 19 Uhr | 7. Dez., 11. Jan | 19.30 Uhr | 26. Dez. | 18 Uhr
UND ODER ODER …
Marstall | 30. Nov., 7., 16., 31. Dez. | 20 Uhr | 26. Dez. | 19 Uhr
DIE WILDENTE
Cuvilliéstheater | 7. Dez., 28., 31. Jan | 19.30 Uhr
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