Beim Festival Radikal jung im Volkstheater gehen junge Regisseur*innen dahin, wo’s wehtut.

Radikal jung 2024

Krankheit, Tod, verletzte Körper

radikal jung

Hendrik Quast und seine Bauchrednerpuppe

Im letzten Jahr hatte das vom Münchner Volkstheater ausgerichtete FestivalRadikal jung 96 Prozent Auslastung, was Intendant Christian Stückl auch darauf zurückführt, dass die Menschen gerade wegen der vielen Krisen ins Theater gingen. Das Festival, bei dem jedes Jahr bemerkenswerte Theaterarbeiten aus dem inzwischen nicht nur deutschsprachigen Raum gezeigt werden, ist für Stückl auch immer eine Überraschung. Die 14 Produktionen aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Belgien, Griechenland und Österreich haben nämlich Christine Wahl, C. Bernd Sucher, Jens Hillje und Florian Fischer aus 50 gesichteten Arbeiten ausgesucht.

Dabei ist ein Fokus auf Produktionen aus mittleren Städten zu erkennen. Hillje betont, dass es harte Arbeit sei, in diesen Städten Theater zu machen. »Theater an der Front« nennt er das. Ein herausragendes Beispiel dafür ist seiner Meinung nach »Das Kraftwerk« vom Theater Cottbus. Wie Regisseur Aram Tafreshiansich an diesem eigentlich nur als Studioarbeit konzipierten Abend über Kohle, Wasser und die Ewigkeit mit der Lausitzer Wassermafia anlegt, sei der Hammer und echtes Volkstheater aus einem Ort, in dem es bei jeder Wahl darum gehe, die AfD zu verhindern. Politiker sollen türenschlagend die Aufführung verlassen haben. Unterstützt vom Rechercheteam Corrective.Klima prangert die Inszenierung den Raubbau am Grundwasser durch die Kohleindustrie an. Und schließt damit an die »Gondelgeschichten« aus Österreich vom letzten Jahr an, in denen es um die ökologischen Folgen des Skizirkus ging.

Existenziell wird es auch in »Die Gerächten« vom Theater Dortmund. In der unbestuhlten Aufführung stellt Regisseur Murat Dikenci die Frage, welchen Widerstand Menschen sich leisten können, die permanent Gewalt und Unterdrückung von rechts ausgesetzt sind. Die Arbeit flankiert praktisch »Doktormutter Faust« von Fatma Aydemir frei nach Goethe. Regisseurin Selen Kara, die gemeinsam mit Christina Zintl das Schauspiel
Essen leitet, überschreibt in dieser Produktion den Faust-Mythos nicht nur feministisch, sondern auch postmigrantisch und warnt vor der teuflischen Herrschaft des Populismus.

Nicht nur äußerlich verletzte Körper sind ein weiterer thematischer Schwerpunkt. Jan Friedrich vom Theater Magdeburg hat Kim de l’Horizons Roman »Blutbuch« für die Bühne adaptiert. In dieser Familiengeschichte geht es um Traumata und Geschlechteridentitäten. Im Blog »Arbeit und Struktur« dachte Wolfgang Herrndorf über Leben, Sterben, Liebe, Kunst, Freundschaft und alles andere nach. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber panische Angst vor der Steuererklärung«, ist sein Fazit. Zum zehnten Todestag des Autors inszenierte Adrian Figueroa für das Düsseldorfer Schauspielhaus die Auseinandersetzung Herrndorfs mit seiner tödlichen Krankheit in einem Setting wie eine Bienenwabe. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt Performer Hendrik Quast in der Auseinandersetzung mit seiner Krankheit. Er hat extra das Bauchreden erlernt, um in seiner unfassbar lustigen Performance »Spill your Guts« nicht nur eklige Drinks zu mixen, sondern sich auch mit seiner kranken Bauchrednerpuppe unterhalten zu können. Die ein bisschen aussieht wie ein Scheißhaufen.

Gar um den Tod geht es in »Goodbye Lindita« vom griechischen Nationaltheater Athen. In der choreografischen Arbeit von Mario Banushi wacht die Ikone der Madonna Nera geisterhaftüber das Geschehen im Haus der verstorbenen Lindita. Der albanischstämmige Regisseur Mario Banushi greift hier Rituale in der Tradition des Balkan auf. Carolina Bianchi setzt sich in der französisch-belgisch-niederländischen Koproduktion »The Cadela Força Trilogy« einem krassen Selbstexperiment aus. Sie trinkt einen mit K.-o.-Tropfen versetzten Drink, bevor die Performance um tanzende Körper, Gewalt, Vergewaltigung und Femizid ihren Lauf nimmt. Wesentlich statischer geht es in »À la carte« der dänischen Gruppe Current Resonance zu. Vier Männer machen an einem Esstisch langweilige bis seltsame Dinge und transportieren eine sehr skandinavische Art von Humor, wie Hillje findet.

Nona Demey Gallagher und Lieselot Siddiki von Detheatermaker bekamen von Valerie Solanas’ Erben als Einzige die Erlaubnis, Solanas’ radikal feministisches Manifest »Up Your Ass« zu inszenieren. Darin liefern die vorlaute Sexarbeiterin Bongi, Papis kleine Prinzessin Ginger und der männliche Narzisst Russel sich in einer absurden (anti-)intellektuellen Diskussion über den Zustand unserer Gesellschaft einen Schlagabtausch der Überzeugungen. Vom Feminismus zur Erforschung der Männlichkeit: Klaus Theweleit wiederum war einer der Ersten, der in den Siebzigern in seinen »Männerphantasien« den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Faschismus analysierte. Regisseurin Theresa Thomasberger klopft in ihrer Arbeit für das Deutsche Theater Berlin Theweleits Erkenntnisse auf ihre Gültigkeit für das Zeitalter frauenfeindlicher Incels und Pick-up-Master ab. Die Dramatikerinnen Svenja Viola Bungarten, lvana Sokola und Gerhild Steinbuch denken sie aus weiblicher Perspektive weiter.

Im Musical »Pandora’s Heart« des Theaterlabors Gießen stirbt niemand vor Liebe. Es ist eher wie eine Clubnacht zu später Stunde. Dort trifft Sandy auf die Unterweltfigur Pandora und versucht ihr Herz zu erobern. Alles lippensynchron auf Deutsch und Englisch. Der Handlung kann auch folgen, wer nur eine der Sprachen versteht. Und vielleicht zum Abschluss des Festivals noch ein bisschen mitfeiern. Geredet und diskutiert werden kann wie immer im Zelt draußen oder an der Theke, im Foyer und beim Rahmenprogramm. Denn geredet werden muss. Immer. ||

RADIKAL JUNG
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 19.–27. April | verschiedene Zeiten | Tickets: 089 5234655

Weitere Vorberichte und Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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