»Radikal jung – Das Festival für junge Regie« im Volkstheater darf heuer wieder vor vollen Sälen spielen – der Run auf die Karten und das weit gespannte Programm ist bereits groß.

Radikal jung

Hingabe und Selbstermächtigung

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In Häuserschluchten verlaufen »Der Meister und Margarita« vom Nationaltheater Weimar sich | © Candy Welz

Geht doch! Als erstes der großen Münchner Häuser hat es das Volkstheater geschafft, was die Besuchszahlen betrifft wieder ganz zur alten Vor-Corona-Form aufzulaufen: 96 Prozent Platzauslastung im Januar sprechen für sich – und für das alte Team um Christian Stückl im schicken Neubau, das sich derzeit wieder für einen heißen Frühling mit einer neuen Ausgabe von »Radikal jung« rüstet. Vom 27. April bis zum 5. Mai können Theaterbegeisterte beim inzwischen längst traditionsreichen »Festival für junge Regie«, das heuer zum 17. Mal stattfindet, wieder jede Menge inspirierende Eindrücke und Begegnungen mit Noch-Geheimtipps und schon hell leuchtenden Shootingstars erleben.

Für Festivalleiter Jens Hillje ist es eine besondere Freude, die erste postpandemische Festivalausgabe anzukündigen, bei der nun endlich wieder vor vollen Sälen gespielt werden darf, nachdem die Jahrgänge 2020 und 2021 ganz abgesagt werden mussten und es auch im letzten Jahr noch coronabedingte Einschränkungen beim Verkauf gab. Das Kurator*innen-Team, dem wie gehabt neben Hillje der Münchner Autor und Professor für Theaterkritik C. Bernd Sucher (als Mitbegründer bereits seit der ersten Ausgabe 2005 dabei), die Berliner Theaterkritikerin Christine Wahl und der multidisziplinär arbeitende Regisseur Florian Fischer angehören, hat aus 80 gesichteten Aufführungen dreizehn Inszenierungen, zehn deutsche und drei internationale, ausgewählt, darunter traditionell eine Eigenproduktion des Volkstheaters. In diesem Jahr fiel die Wahl verdientermaßen auf Mathias Spaans gelungene Adaption des Romans »8 Millionen« von Tom McCarthy, ein vertracktes Vexierspiel rund um die Fragen »Was ist echt?« und »Was passiert, wenn man die sogenannte Wirklichkeit aufgrund eines Blackouts maßstabsgetreu rekonstruieren will?«.

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»Woyzeck« vom Theater Magdeburg im Egoshooter-Setting | © Kerstin Schomburg

Divergierende Wahrnehmungen von Realität und Versuche, sich kollektiv darin zu verorten oder gar zu solidarisieren, sind Themenstränge, die sich durch einige der ausgewählten Produktionen ziehen. In »GRM. Brainfuck – Das sogenannte Musical« (Theater Dortmund), inszeniert von Dennis Duszczak in einer Bühnenfassung von Sibylle Berg nach ihrem gleichnamigen Roman, kämpft eine Gruppe jugendlicher Outlaws um ein Stück Glück in einer brutal exklusiven Gesellschaft. Aber auch innerhalb der Theater wird wieder härter um Aufmerksamkeit konkurriert. »Für junge Regisseur*innen ist es schwerer geworden«, so beschreibt Hillje seine Beobachtung bei der Recherche, »auf die großen Bühnen zu kommen, was auch wieder zu mehr Versuchen führte, aus den Bubblen und Echokammern rauszukommen«. Fragen, wie die Pandemie einzelne Gruppen oder Individuen getroffen hat, stehen dabei im Fokus, aber gleichzeitig ist auch eine Hinwendung zu großen Stoffen festzustellen. So verknüpft Pavlo Arie, ukrainische Dramatiker und Dramaturg des Left Bank Theatre Kyjiw, die »Odyssee« in seiner Neudichtung mit aktuellen Kriegs- und Fluchtgeschichten vorwiegend aus weiblicher Sicht, die der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov im Exil am Düsseldorfer Schauspielhaus mit deutschen und ukrainischen Mitwirkenden inszeniert hat.

Isabell Redfern und Katharina Stoll vom freien feministischen Theaterkollektiv Glossy Pain transferieren mit der Autorin Golda Barton Motive von Anton Tschechows »Drei Schwestern« als »Sistas!« in Koproduktion mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf eine US-Militärbasis im Berlin der 1990er Jahre. Sehnsuchtsort ist hier nicht Moskau, sondern New York, von wo aus sich der abtrünnige Vater, ein Schwarzer GI, überraschend zurückmeldet. Was die Sistas in scharfzüngigen Dialogen vor allem umtreibt, sind Rassismuserfahrungen und Fragen interkultureller Aneignung: Dürfen Asiat*innen europäische Klassik spielen? Und wer darf eigentlich Tschechow aufführen? Mit schrankenlosem Gestaltungswillen, der auf alle Bereiche wie Mode, Make-up, Skulptur, Sound und Video(-Installation) ausgreift, zielen die nonbinäre belgische Künstler*in Stef Van Looveren mit »Radical Hope – Eye to Eye« auf ästhetische Überwältigung und eine performative Utopie von Gemeinschaft jenseits normierter Körperlichkeit. Ebenso entwickelt der in Großbritannien lebende disabled Choreograf Dan Daw aus seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Tanz und Behinderung heraus und zusammen mit seinem künstlerischen Komplizen Christoph Owen ein intimes Spiel aus offensiver Hingabe und Selbstermächtigung zwischen Stolz und Scham und fegt dabei jedes moralische Unbehagen, das beim Aufeinandertreffen von behinderten und nicht behinderten Körpern noch übrig sein könnte, von der Bühne.

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An Rieke Süßkows Inszenierung von Peter Handkes »Zwiegespräch« vom Wiener Burgtheater scheiden sich die Geister | © Susanne Hassler-Smith HP 137-min

Auf investigativen Fährten unterwegs in der Ski- und Bergwelt Tirols ist das österreichische Institut für Medien, Politik & Theater – Felix Hafner, Emily Richards, Anna Wielander – mit ihren »Gondelgeschichten« in Koproduktion mit dem Tiroler Landestheater Innsbruck. Mit welchen Mitteln und um welchen Preis wird das oberste Ziel einer erfolgreichen Skisaison von Männerseilschaften aus Tourismus und Politik verteidigt? Nach monatelanger Recherche treffen hier unversöhnliche Positionen von Klimaschützern und Kunstschneefanatikern ungeschützt und mit furios satirischem Einkehrschwung aufeinander. Und dann gibt es gleich zur Eröffnung auch noch eine Überschneidung mit dem Berliner Theatertreffen: Peter Handkes neues Stück »Zwiegespräch« ist in Rieke Süskows kontrovers diskutierter Uraufführung vom Wiener Burgtheater zu sehen, die aus der tastenden Selbstbefragung des Dichters einen vielstimmigen, feministisch-geriatrischen Abgesang komponiert.

Neben Künstler*innengesprächen und Late-Night-Formaten wird von den Freunden des Volkstheaters e. V. auch wieder der Publikumspreis verliehen, wie immer nach akribischer Auszählung der nach den Vorstellungen eingesammelten Stimmen und heuer auf 4000 Euro aufgestockt. Und damit nach den Aufführungen mit den Künstler*innen noch weiter gefeiert und heiß diskutiert werden kann, soll es auf vielfachen Wunsch auch wieder ein Festivalzelt im Hof des Volkstheaters geben. ||

RADIKAL JUNG
Volkstheater | Tumblingerstr. 29
27. April bis 5. Mai | veschiedene Zeiten
Tickets 089 5234655

Weiteres zum Münchner Theatergeschehen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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