In dem Ensembletanzstück »In Ordnung« erkundet die österreichische Choreografin Doris Uhlich die Kraft des Chaos und der Verschiebungen.

»In Ordnung« von Doris Uhlich

Schubladen auf!

in ordnung

Das Ensemble von Doris Uhlichs »In Ordnung« | © Julian Baumann

Ganz schön viel los hier. 16 Menschen in Alltagskleidung bewegen sich zu Techno-Musik durch den Proberaum und heften sich bebend an diverse Podeste. Aus dem, was Doris Uhlich ihnen mitgibt, hört man Begriffe wie »Pleasure« und »Körper-Chaos« heraus. Und das, obwohl der Abend, für den die österreichische Choreografin mit dem Gros des Ensembles der Münchner Kammerspiele probt, »In Ordnung« heißt. Dass damit kein beschwichtigendes »Ruhig Blut!« oder affirmatives »Alles paletti!« gemeint ist, liegt angesichts der Weltlage fast auf der Hand. Der Untertitel »Tanzt die Verschiebung« verrät mehr. Der Appell ist laut Uhlich »nach und nach unser zentrales Motto geworden. Mit Verschiebungen gehen Schubladen auf und Räume für Veränderung.« Und so, wie der Abend gebaut ist, werde auch sichtbar, »dass aus der Kraft der Verschiebungen die Kraft zum Tanzen kommt«.

Die ersten Szenen stehen gerade nicht auf dem Probenplan. Ein Blick auf den Laptop der Regieassistentin zeigt, dass »In Ordnung« tatsächlich mit Ordnung, formalen Regeln und Bewegungsmustern beginnt. Die Performer*innen stellen sich der Größe oder dem Alter nach auf. Sie gehen geradeaus und dann nicht mehr. Jede kleine Veränderung bringt Unruhe in das Bild, an das sich das Auge gerade gewöhnt hat. Wie in Gesellschaften, die im Umbau begriffen sind. Später werden Bühnenteile durch den Raum geschoben, erst langsam, dann dynamischer und diffuser. Vor dem Schnelldurchlauf der Mitschnitte fühlt man sich ein wenig wie bei der Betrachtung einer Ameisenstraße, die ins Gewimmel des Hügels mündet. Und man ahnt, dass hinter dem vermeintlichen Chaos eine Ordnung höheren Grades steckt. Vielleicht auch in einem
Ensemble, das in den letzten Jahren zunehmend diverser geworden ist? Was immer das genau heißt. Der Ensemble-Oldie Walter Hess mit seinen bald 85 Lebensjahren und der Begeisterungsfähigkeit von mindestens drei Jugendlichen spielt und tanzt neben – ausschließlich jüngeren – Kolleg*innen mit unterschiedlichen Herkünften, Hautfarben oder Beeinträchtigungen. »Die Diversität der Gruppe ist eine Stärke«, sagt Uhlich, die mit Tänzer*innen im Rollstuhl bereits Erfahrung hat, mit Performer*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen aber zum ersten Mal arbeitet. »Da tut sich eine ganz neue Welt auf«, sagt sie. Aber halt auch eine mit einem anderen Rhythmus und anderen Bedürfnissen. Weshalb man sich schon wundert, dass die Kammerspiele für diese Produktion eine kürzere als die übliche Probenzeit veranschlagt haben.

Weil es keinen oder kaum Text darin gibt? Uhlich selbst ist diplomatisch: »Es ist eine Herausforderung, aber in den Münchner Kammerspielen gibt es unterstützende Personen, die den Prozess begleiten und mir zur Seite stehen.« Die Erfinderin der »Fetttanztechnik«, die als Tänzerin wie Choreografin auf die Materialität des Fleisches, nicht-normative Körperlichkeit, Verausgabung und meist auch Nacktheit setzt, strebt nach einer Form der Zusammenarbeit, »in der jede*r sich ausdrücken kann«. An den Kammerspielen konnte man die Kombination aus all dem bereits 2020 in der pandemischen Version ihres Performance-Chamäleons »Habitat« erleben.

Uhlichs ikonisches »Pudertanz«-Solo, das sie gerade erst wieder zur Eröffnung der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl gezeigt hat, und ihre entfesselten Gruppenstücke »more than naked« und »Boom Bodies« waren bereits bei der Tanzwerkstatt Europa in München zu Gast. Diesmal aber bleiben die Kleider an den Körpern. Ausstatterin Juliette Collas hat sogar »große« Kostüme mit viel Tüll, (Kunst-)Pelz und Farbe entworfen, die einige schon anprobieren, während Samuel Koch gerade eine Idee hat, wie die Kolleg*innen ihn gut aus dem Rollstuhl bekommen und szenisch einbinden können. Eine Gruppe probiert das gleich mit ihm aus. Derweil geht eine tiefenentspannte Doris Uhlich mit ein paar anderen ins Eins-zu-eins. Edith Saldanha variiert in der elastischen Variante einer Ritterrüstung das Gehen auf einer Treppe. Die zwischen pelzigen Füßen und Handschuhen sehr schmale Johanna Kappauf sucht nach dem idealen Zittern. Anna Gesa-Raija Lappe probiert aus, wie sie sich in einem ausladenden gelben Rock in ein flaches Ding verwandeln kann. Dennis Fell-Hernandez ist als Legomännchen verkleidet und ein Dinosaurier rennt mit einer lila Schubkarre über die Probebühne und verliert Luft.

Es ist, als habe jemand eine Kinderzimmerschublade aufgezogen und die Plüsch-, Action- und Fantasy-Figuren darin in eine Freiheit entlassen, die durch Minimal-Justierungen von Uhlichs Seite ihre Form bekommt. Ein »Probier’s mal kleiner« hier und ein »Wo schaust du hin?« da machen unter den alles vergrößernden Kostümen einen Riesen-Unterschied. Wie und wo diese Kostüme am Ende auftauchen werden, ist noch nicht ganz klar. Aber auch das Publikum wird kreativ irritiert werden, verspricht die Choreografin. Von der Offenheit und Experimentierfreude des Ensembles und seiner Kollaboration untereinander ist sie begeistert. Und wie zum Beweis wird Samuel Koch im Hintergrund gerade von seinen Helfern auf Händen getragen. Sie sind den detaillierten Anleitungen des Gastes am Haus gefolgt, der seit seinem Unfall bei »Wetten dass?« 2010 querschnittsgelähmt ist. Und als einer seiner Träger mal vorfühlt – »Wie hoch willst du sein?« sieht Koch eindeutig nach »the sky is the limit« aus. Trotzdem vergisst er am Ende nicht zurückzufragen: »Und wie war das für euch?« Ein Traum! Hätte das jemand so inszeniert, hätte man dieses Musterbeispiel an Achtsamkeit vermutlich kitschig gefunden. ||

DORIS UHLICH: IN ORDNUNG
Münchner Kammerspiele, Schauspielhaus | 26. März | jeweils 20 Uhr | 7. April | 18 Uhr Tickets

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