Wim Wenders knüpft mit seinem neuen Film an seine Anfänge an. »Perfect Days« ist ein Glücksfall.
Perfect Days
Zen und die Kunst, eine Toilette zu putzen
Also, das Anstrengende zuerst: Dieser Film dauert zwei Stunden. Bis das erste Wort gesprochen wird, vergehen zehn Minuten. Und dann passiert wenig und gleichzeitig genau richtig viel. Wim Wenders hat dem Phänomen, wie Zeit mit Leben gefüllt wird, seit seinen frühen Filmen – man denke an »Der Stand der Dinge«, »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« oder »Paris Texas« – immer viel Platz eingeräumt.
In »Perfect Days« zelebriert er diese Frage mit berückendem Gleichmut. Man schaut dem Mann Hirayama (Koji Yakusho, »Bester Darsteller« in Cannes 2023) zu, wie er seinen Alltag in Tokio durch feste Rituale absteckt, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Er ist ordentlich, rollt jeden Abend seinen Futon aus und morgens wieder ein, alles liegt an dem ihm zugedachten Platz. Er liebt große Bäume und das Lichtspiel der Blätter im Wind, die er gern in SchwarzWeiß fotografiert, und seine kleinen Setzlinge, die er jeden Morgen liebevoll besprüht, bevor er das Haus verlässt. Auf dem Weg zur Arbeit hört er leise lächelnd Popklassiker von den 60er bis zu den 80er Jahren, Otis Reddings »Sitting on the dock of a bay« und Lou Reeds »Perfect Days«, von Kassetten, die er abends mit einem Stift zurückspult. (Wer im Publikum wird da nicht ebenso lächeln, die passenden Erinnerungen vorausgesetzt?)
Die nächsten Stunden den Tages widmet Hirayama der Pflege des zeitgenössischen Designs: nämlich den unfassbar gut aussehenden, architektonisch abwechslungsreichen öffentlichen Toiletten. Man staunt, wie superclean und superchic diese Örtlichkeiten sein können. Hirayama nimmt seine Arbeit ernst, aber er ist nicht verbissen. Seinem jungen Kollegen, eine echte Nervensäge, begegnet er nachsichtig väterlich. Nach getaner Arbeit radelt er in die öffentliche Waschanstalt, setzt sich ins Sprudelbecken, manchmal besucht er danach seinen Vater, oft isst er in einem Imbiss im MetroZwischengeschoss. Vor dem Einschlafen liest er Bücher aus dem Antiquariat, zum Beispiel von William Faulkner. Dann träumt er: Bilder in SchwarzWeiß. Nach 30 Filmminuten ist der erste Tag vorbei, und dann beginnt der zweite.
Und zwar genauso wie der erste, und man fragt sich schon, ob das ein Remake von »Und täglich grüßt das Murmeltier« werden soll oder worauf man sich hier eingelassen hat? Doch dann passiert doch täglich etwas Neues. Die Musik wechselt, die Toiletten sind andere, und jeder Tag hat eine Überraschung parat. Eine unerwartete Komplizenschaft mit einem kleinen Kind, das allein nicht aus dem Klo kommt. Die blonde Freundin des Kollegen, die sich für Hirayamas Kassetten begeistert. Am dritten Tag entdeckt er einen Zettel hinter der Klospülung, auf dem eine Art »Schiffe versenken«-Gitter aufgemalt ist. Er ergänzt ein Zeichen und steckt den Zettel zurück. Er freut sich über Menschen und Dinge, geht in Frau Mamas Kneipe, wo diese ganz großartig im Geishagewand auf Japanisch »House of the Rising Sun« singt. Als er mitkriegt, dass sie Herrenbesuch bekommt, bekümmert ihn das unerwartet heftig, aber der Besucher entpuppt sich als ihr schwer kranker Ex-Mann, und plötzlich ist da eine wundersame, fast kindliche Freundschaft zwischen beiden. Werden Schatten dunkler, wenn sie sich überschneiden?, fragt der Ex-Mann, und dann fangen die beiden ihre Schatten, auf der Suche nach dem dunkleren Fleck, den es nicht gibt.
Am nächsten Morgen fährt Hirayama zu Nina Simones »It’s a new dawn, it’s a new life for me, and I’m feeling good« wieder zur Arbeit, der Sonne entgegen. Hirayamas Gesicht in Großaufnahme enthält die ganze Welt: sein Lächeln, seine Wehmut, seine Freude, den Schmerz eines Menschen, der freundlich, vielleicht sogar im Reinen mit sich und allem lebt. In seinem 40 Jahre alten Kurzfilm »Reverse Angle« erzählt Wim Wenders, welche Künstler und Werke ihn damals besonders berührten. Der Roman »Mes Amis« von Emmanuel Bove war eines davon, er habe »nach Tagen voller Blindheit den Sinn und die Lust am friedlichen Sehen« wiederentdeckt. Wenn Wenders mit »Perfect Days« an diesen Moment in seinem Leben anknüpfen wollte, so ist ihm das vollumfänglich gelungen. ||
PERFECT DAYS
Japan, 2023 | Regie: Wim Wenders, Buch: Takuma Takasaki, Kamera: Franz Lustig | Mit: Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano, Sayuri Ishikawa u.a. | 123 Minuten | Kinostart: 21. Dezember | Website
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