Zu den Auseinandersetzungen von Tschaikowski mit Shakespeare schuf Alexei Ratmansky ein Stück für das Bayerische Staatsballett – zwischen Erzählungen und Abstraktion.

Tschaikowski-Ouvertüren

Eröffnungen

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Sava Milojevi und Yago Gonzaga in Alexei Ratmanskys »Tschaikowski-Ouvertüren« © Serghei Gherciu

Als »Zeitenwende« hat Bundeskanzler Olaf Scholz die aktuelle politische Situation bezeichnet. Keine Frage: Putins Angriffskrieg in der Ukraine mit allen Folgen gefährdet die Weltwirtschaft, führt zu neuen Bündnissen, zu neuen Machtverhältnissen. Aber das hat doch alles nichts mit der Kunst zu tun! Oder vielleicht doch? Wie wirken sich gerade jetzt kriegerische Bedrohung und existenzielle Ängste auf künstlerisches Schaffen aus? Eine Antwort darauf finden die Historiker wohl erst im Rückblick.

Fakt ist, dass gesellschaftliche Veränderungen von der Kunst wahrgenommen werden, bewusst oder unbewusst. Schauen wir nur mal auf den Tanz. Es ist doch ein beachtenswertes Phänomen, dass Hamburgs Ballettintendant John Neumeier schon seit einigen Jahren traditionelle Handlungsballette aufbricht und neu modelliert. Auch wenn nur aus Experimentierfreude – die gebrochene Form ist eine Aussage über unsere Zeit. Und soeben wagte Alexei Ratmansky mit seinen für das Bayerische Staatsballett entworfenen »Tschaikowski-Ouvertüren« ganz Ähnliches. Die Uraufführung im ausverkauften Münchner Nationaltheater wurde begeistert aufgenommen. Das Ensemble, wie befreit nach den vergangenen Corona-Einschränkungen, stürmte regelrecht über die Bühne: temporeich, schritt-dicht, dabei sich lustvoll hineinwerfend in die von Ratmansky höllisch vertrackt ausgedachten Pirouetten und Sprünge. Mikhail Agrest dirigiert als leidenschaftlicher Klangund Rhythmusanimateur, lässt das gesamte Staatsorchester mal in dramatischer Hochspannung voll aufklingen, dann wieder den sensiblen Tschaikowski durchhören. Von den melodischen Themen kann man sich förmlich wiegen lassen.

In ihrer hybriden Machart ist diese Kreation jedoch kein leicht konsumierbarer Kassenschlager. Der Choreograf, weltweit als Form wahrender Neoklassiker bekannt, geht mit einem strukturellen Versuch ins Risiko: Ratmansky vertanzt hier die Tschaikowski-Fantasie-Ouvertüren zu »Hamlet« sowie »Romeo und Julia« und die »Sturm«-Fantasie für Orchester. Aber eben nicht jeweils als ganze Story, sondern gezielt zwischen abstrakter, rein der Musik verpflichteter Choreografie und – doch noch! – einer Spur von Handlung. Der Zuschauer, selbst wenn vertraut mit den drei Shakespeare-Dramen, hat da einiges zu enträtseln – bis hin zu den Besetzungen. Was ja auch spannend ist. Man findet im Programmheft zwar Tänzernamen, aber keine Rollenzuweisung. Also nachdenken – oder im Dramenführer nachschlagen. Das choreografische Triptychon wird eingeleitet mit der »Elegie« aus der Bühnenmusik zu »Hamlet«. Irrlichternd zwischen den sechs »Elegie«-Paaren, scheint Shale Wagman so etwas wie ein Spielmacher. Technisch in Hochform, wirbelt der feingliedrige Solist auch noch im Verlauf des Abends durch seine mit Sprüngen und Drehungen aller Art gespickten Variationen. In der »Hamlet«-Fantasie-Ouvertüre erkennen wir den Ersten Solisten Osiel Gouneo als Titelhelden: dramatisch in seinen Soli wie auch in der Begegnung mit Ophelia und in der Auseinandersetzung mit Höflingen oder Soldaten.

Alexei Ratmansky im Interview mit Eva-Elisabeth Fischer

Für den »Sturm« konzentrierte sich Ratmansky auf die Liebesbeziehung zwischen Prosperos Tochter Miranda und dem Königssohn Ferdinand. In einem Nebenauftritt erleben wir auch den Hexen-Abkömmling Caliban mit expressionistischskurrilen Bewegungen. Sein Widerpart, der Luftgeist Ariel, brilliert in fast fliegenden Schrittfolgen. Der Interpret, der erst 19-jährige Portugiese António Casalinho, zur Saison 2021/2022 als Demi-Solist engagiert, ist sicher eine Zukunftshoffnung (und wurde gerade zum Solisten befördert). Dies nur angerissen der dechiffrierbare Teil dieses gewollten Zwitters zwischen erzählendem und abstraktem Ballett. Bezüglich letzterem, so schwebt und schwirrt das reine Tanzen von Pas-de-deux-Paaren, von kleinen und größeren Gruppen immer wieder über die Bühne.

Gestaltet hat sie der Ausstatter Jean-Marc Puissant. Bei seinen großen matten Farbflächen im Hintergrund, seinem baumähnlichen, später auch quer teilbaren Gemälde wähnt man sich in einer Ausstellung. Wobei die Teile dann auch wandern, sich schließlich bis zum völligen Verschwinden ineinanderschieben – im Grunde also unentwegt mittanzen. Das ist sehr effektvoll, passt bestens zu Ratmanskys Konzept einer Mischform.

Nur das »Romeo und Julia«-Gesangsduett von Elmira Karakhanova und Aleksey Kursanov könnte gerne gestrichen werden. Es wirkt eben doch etwas »retro« in dieser eher zeitgenössisch gedachten Kreation. Das dann folgende letzte Kapitel schwächelt sichtbar choreografisch, als ob Ratmansky gegen Ende ein wenig ermüdet wäre. Aber da kann er noch nacharbeiten – wenn umbautechnisch irgend möglich auch die zweite Pause wegkürzen. Der Abend muss nicht künstlich gestreckt werden.

Jedenfalls bleibt dieses neue Werk in vielerlei Hinsicht interessant. Da ist einmal das Wagnis der gebrochenen Form, dann auch Ratmanskys großes historisches Interesse an der Rückgewinnung von älterem, kaum noch eingesetztem Schrittvokabular. Wo hat man letzthin so viele »battierte«, also schnell angeschlagene Sprünge gesehen wie in dieser Premiere? Der Blick wird hier wieder auf eine komplexe Fußarbeit gelenkt, wie noch bekannt aus Balletten des legendären August Bournonville (1805–1879). Andererseits erweist sich Ratmansky gleichzeitig als modern denkender und fühlender Tanzschöpfer. Die Solisten haben hier nur kurze Auftritte. Der Hauptakteur ist das Ensemble. Darin werden auch die Männer sichtbar, auch die aus dem Corps de Ballet – und alle mit einer erstaunlichen Technik. Passé endgültig das Klischee vom Balletttänzer als »Ballerinen-Halter«. Und so bekommt diese Choreografie, man möchte sagen: eine demokratische Qualität. Letztlich vermittelt dieser letzte Akt in seinen Gruppenformationen das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft, den Willen zum Zusammenstehen. Man liegt wohl nicht falsch, hier eine stille politische Botschaft des russisch-ukrainischen Choreografen Ratmansky herauszulesen. ||

ALEXEI RATMANSKY: TSCHAIKOWSKI-OUVERTÜREN
Nationaltheater | 8. April, 5., 7. Mai., 10. Juli | 19.30 Uhr
7. Mai | 15 Uhr | Tickets: 089 21851920

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