Zeitgemäß und mit Tempo: Karl Alfred Schreiner hat den Ballettklassiker »Giselle« am Gärtnerplatztheater neu choreografiert.

Giselle

Happy End im Geisterreich

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Amelie Lambrichts als Giselle in der Inszenierung von Karl Alfred Schreiner | © Marie-Laure Briane

Ein adliger Windhund, Albrecht heißt er, macht einem Bauernmädchen schöne Augen. Sie weiß nichts von seiner Herkunft. Als die ihm standesgemäß schon zugedachte Braut samt herzoglichem Gefolge im Winzerdörfchen auftaucht, will die zarte Dorfschöne sich in sein Schwert stürzen. Aber – das schwache Herz! – schon bricht sie sterbend zusammen. Und wird in Akt II aufgenommen ins Heer der Wilis, jener früh verstorbenen Bräute, die nächtens junge Männer zu Tode tanzen. Ihren Albrecht wird sie jedoch vor diesem Schicksal bewahren. Ach, Giselle!

1841 schwebt sie zum ersten Mal über die Bühne der Pariser Oper: zunächst in dörflicher Tracht, in Akt II im langen weißen Tütü und auf Spitze. Ein Traumwesen, ganz Geschöpf der Romantik. Die ist bewusste Gegenbewegung zur Klassik und zur Aufklärung, gewolltes Zurück- und Wegsehnen in die Vergangenheit und in Fantasiewelten. Hier neigt sich die Realität hinüber zum Irrealen. Friedhöfe, dunkle Wälder, die Tiefe der Nacht sind die Schauplätze, zerbrechliche Liebe, Tod und Vergänglichkeit sind die Themen.

Die Sage der Wilis in Heinrich Heines »De l’Allemagne« von 1835 war der Initialfunke. Henry Vernoy de Saint-Georges & Théophile Gautier verfassten das Libretto, Adolphe Adam komponierte, Jean Coralli und Jules Perrot choreografierten. Letzterer entwarf die Tänze für Carlotta Grisi, zu dem Zeitpunkt seine Lebensgefährtin. Den Albrecht kreierte Lucien Petipa. Sein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder Marius Petipa zeichnete dann 1887 verantwortlich für eine revidierte Fassung. In dieser St. Petersburger Version tanzte die Giselle erstmals in Akt I und II ihre Variationen zu Musik von Ludwig Minkus. Dies nur als ein Hinweis, dass Einfügungen, Neuerungen das Ballett im Laufe der Zeit nach je aktuellem Kunstverständnis etwas anders zugeschliffen haben. Der Italiener Cortesi choreografierte an der Mailänder Scala 1843 sogar eine fünfaktige »Giselle« mit neuer Musik seines Landsmannes Giovanni Bajetti.

Und »Giselle« veränderte sich weiter – entlang den Ideen der Moderne. Ein berühmtes Beispiel ist die Version des Schweden Mats Ek, 1982 für das Cullberg Ballett kreiert (seit 1996 im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts). Die Titelfigur endet in der Irrenanstalt. Ebenfalls realistisch, um nicht zu sagen alltäglich, ist die brandneue Fassung von Karl Alfred Schreiner, Ballettchef am Münchner Gärtnerplatztheater.

Die Geschichte spielt im Heute. Adelsstand und Klassenunterschied sind hier ganz raus. Giselle glaubt, dass ihr Albrecht was hat mit dieser Bathilde (im Original: Albrechts Verlobte). Klar, typisch Frau, immer zweifeln, immer gleich leiden. Dennoch: etwas unwahrscheinlich bleibt bei Schreiners »heutiger« Giselle, dass sie allein wegen Albrechts Täuschungsmanöver (tot?) zusammenbricht und auch noch ratzfatz bei den Wilis landet. Irgendwie kommen sich hier, immerhin im Jahr 2022, nüchterne Realität und Sagenstoff in die Quere. Schauen wir drüber hinweg – so ganz ohne Knirschen lässt sich die traditionelle Handlung wohl nicht umbauen. Oder sollen wir den Wilis-Akt lediglich als Traum verstehen?

Jedenfalls ist man jetzt quasi eingetunt in diese zeitgenössisch geliftete »Giselle« – findet es schon ganz normal, dass Bathilde in Akt II zur Wilis-Anführerin Myrtha umgesattelt hat. Isabella Pirondi, langjährige Tänzerin des Ensembles, bleibt elegant bis hin in die vom Wilis-Heer hoch über Kopf gestemmten Extrem-Hebungen. Während Luca Seixas als Waldhüter Hilarion immer mal wieder zirzensisch vorbeiturnt, kann Albrecht die verunsicherte Giselle letztlich von seiner Zuneigung überzeugen. Happy End in einem Pas de deux der beiden, in dem Alexander Hille die wunderbar bewegliche Amelie Lambrichts mit festem Griff um sich tanzen und hoch auf seinen Schultern kreisen lässt.

Das Schönste, das Beste ist, wie diese zeitgenössische Deutung so körperlich, so zeitgemäß temporeich über die Bühne geht. Im Grunde hat sie auch etwas Demokratisches. Sicher haben die Hauptfiguren hier »ihre« Auftritte. Letztlich ist aber das Ensemble der Hauptakteur, entweder in geschlossener Mannschaft oder in kleineren Gruppierungen. Die Männer toben sich aus in Volkstanz-ähnlichem Kräftemessen, auch im spielerischen Neuarrangieren von großen rechteckigen Paketen zu Bett oder Sitzgelegenheit. Es sind jedoch keine Winzer, sondern erkennbar bayerische Buben in Dreiviertelhosen, bunten Jankern und einige mit Trachtenhut. Der Trupp der Wilis – übrigens weiblich-männlich gemischt – rauscht rein und raus in rasanten Attacken. Aber hier keine traditionell weißen flatterigen, bodenlangen Tütüs. Die Wilis-Kleider in Weinrot, Dunkelgrün und Schwarz – schick auch für Partys – fliegen in der Drehbewegung flatternd-kreisend auf. Was das Münchner Designer-Duo Talbot & Runhof hier entworfen hat, tanzt einfach mit. Das gleiche gilt für Heiko Pfützners Bühne: Zunächst ein enger Raum aus scheinbar rohen Hölzern – schon hier die Andeutung vom Wald der Wilis. Dann Öffnung des Bühnenbildes in die Tiefe, in die Weite und räumliche Auflockerung mit Säulen. Wieland Müller-Haslinger zaubert jeweils andere (Licht-)Stimmungen.

Und schließlich wird Karl Schreiners neue »Giselle« vom Staatsorchester unter Dirigent Michael Nündel im besten Sinne auf Noten getragen. Nündel beginnt mit einem kleinen Klänge-Konzert und gestaltet dann Adolphe Adams Uraufführungs-Komposition mit vielen einfühlsamen Umstellungen, Kürzungen und Wiederholungen durchgehend fast zeitgenössisch zügig – auf jeden Fall wunderbar luftig. ||

GISELLE
Gärtnerplatztheater
7., 13., 21., 26., 28. Dez.; 4. Jan. 2023 | 19.30 Uhr | Tickets: 089 21851960

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