Andrej Kurkow wird für sein »Tagebuch einer Invasion« mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Die Jury ehrt es »als eindringliche Chronik wie als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe«.

Andrej Kurkow. Tagebuch einer Invasion

»Mich schaudert es dabei, die folgenden Worte niederzuschreiben«

andrej kurkow

Andrej Kurkow © Pako Mera Opale Bridgeman Images

Selten war ein Preis so verdient wie die Auszeichnung des ukrainischen Autors Andrej Kurkow mit dem diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis. Dieser Preis, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Landesverband Bayern) und der Stadt München vergeben wird, will jährlich ein Buch auszuzeichnen, »das geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben«. Tatsächlich ist momentan kaum ein Buch geeigneter, diese Impulse zu geben, als Kurkows »Tagebuch einer Invasion«. Es ist »zugleich als eindringliche Chronik wie als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen«, heißt es in der Begründung der Jury.

Kurkow wurde 1961 in Leningrad geboren, seit seiner Kindheit lebte er als »ethnischer Russe« in Kiew. Bis er sich im Frühjahr wie viele andere auf die Flucht begeben musste. Verlassen hat er die Ukraine nicht dauerhaft, er landete in einem Dorf im Westen des Landes. Mit seinen Aufzeichnungen begann er schon vor der Invasion der russischen Truppen, der erste Eintrag stammt vom 29.12.2021. Am 24. Februar, dem Tag der Invasion, schrieb er kaum etwas, wie er sich im Vorwort erinnert: »Vom Geräusch russischer Raketenexplosionen aufgeweckt, stand ich etwa eine Stunde lang am Fenster meiner Wohnung in Kiew und schaute auf die leere Straße hinunter, in dem Bewusstsein, dass der Krieg ausgebrochen war, jedoch noch unfähig, diese neue Realität zu akzeptieren.« Kurkow schaute seine Notizen durch, nahm auch Texte vor diesem Wendepunkt in der ukrainischen Geschichte in sein Buch auf. Plastisch zeigt er, wie aus einem Land, das eben noch über eine Reform der Schulmahlzeiten stritt, allmählich immer mehr ein Land wurde, das sich auf den Krieg vorbereitete. In seiner Neujahrsansprache sprach Präsident Selenskyj den Wunsch aus, »Nachbarn mögen mit einer Flasche (Wodka) und Fleischsülze zu Besuch kommen und nicht mit Waffen einfallen«. Bombenkeller wurden gewartet und die »städtische Beschallungsanlage für Alarmsirenen«.

andreij kurkow

Nach einem Drittel des Buches bricht der Krieg aus, der weltweit wahrgenommene. Kritisch und besonnen berichtet Kurkow aus dem Alltag im Krieg, zeigt historische Zusammenhänge auf und zieht Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er schildert die Absurdität des Frühlings und des Vogelgezwitschers auf dem Land, während in der Stadt Bomben explodieren. Er berichtet von den Staus auf der Flucht; von seiner zerbombten Lieblingsbäckerei, deren Brot nun für immer der Vergangenheit angehört; von der Sorge um Verwandte und Freunde. Bereits am 8.3.22 notiert er: »Mir sind längst die Worte für das Grauen ausgegangen, das Putin uns auf ukrainischem Boden beschert hat.« Doch in all den Episoden und Begebenheiten, die er schildert, ist es sehr präsent, das Grauen. Kurkow hört genau hin, fragt nach und spürt viele kleine Geschichten auf, die sich zu einem differenzierten Bild eines Landes in großer Not und Zerrissenheit zusammenfügen: Die unterirdische Parallelwelt in den U-Bahn-Anlagen, die zur Wohnung, zum Kino und zur Neugeborenen-Station wurden. Neue Realitäten wie die Luftangriffs-App, die einen warnt, wenn man sich in der Fluglinie einer Rakete befindet; die Zootickets, die Menschen kaufen, damit die Tiere in den geschlossenen Zoos nicht verhungern; die Gleichzeitigkeit von spielenden Kindern und dem russischen Beschuss in Charkiw; die geschlossenen Buchhandlungen und die Bücher, die nicht mehr gedruckt werden konnten; die Gasablesungen für Wohnungen, in denen niemand mehr wohnt – und das neue Leben in der Wohnung anderer Menschen.

All das setzt Kurkow zusammen zum Panorama eines Landes, in dem es keine Garantien mehr gibt. Er schaut hin und ordnet das Gesehene in einen größeren Zusammenhang ein, schildert den Alltag und das Überleben im Krieg, verbindet das persönliche Erleben mit einer historischen Einordnung der Geschehnisse. Er macht deutlich, was »Krieg«, dieses für uns zum Glück abstrakte Wort, in der Praxis bedeutet. Sein Blick endet nicht an der ukrainischen Grenze, er schaut nach Russland (natürlich), aber auch hinaus in die Welt, auf der Suche nach Verbündeten: Dieser Krieg »geht die ganze Welt etwas an, nicht nur wegen des Flüchtlingsstroms, sondern auch, weil ein skrupelloser Führer eines großen Landes in der Lage war, alles aus dem Lot zu bringen, Volkswirtschaften zu zerstören und allgemeine Angst und Schrecken zu verbreiten. Die ganze Welt muss der Ukraine jetzt zur Seite stehen, ansonsten wird sich dieser Krieg innerhalb Europas ausweiten.« Die Zukunft der Ukraine in einer Zeit »danach« wird eine andere sein, der Krieg wird noch lange nach seinem offiziellen Ende nachwirken. »Für meine Generation wird jetzt kein normales Leben mehr möglich sein. Jeder Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde in der Seele eines Menschen. Er bleibt ein Teil des eigenen Lebens, selbst wenn er längst vorüber ist.« – Als Kurkow am 11.7. seinen letzten Eintrag schreibt, ist der Krieg noch nicht vorüber. Es ist gut möglich, dass er noch ein weiteres Tagebuch füllt. ||

ANDREJ KURKOW: TAGEBUCH EINER INVASION
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon Verlag, 2022 | 352 Seiten | 19,90 Euro

ANDREJ KURKOW AUF DEM LITERATURFEST MÜNCHEN
16.11.
LITERATURFEST-ERÖFFNUNG MIT ANDREJ KURKOW & TANJA MALJARTSCHUK
Literaturhaus, Saal & Stream | 19 Uhr
15 Euro (10 Euro), Streamticket 5 Euro

17.11.
FORUM:AUTOREN: »JEDE DIKTATUR STIEHLT EINEM DAS LEBEN«
Herta Müller & Andrej Kurkow im Gespräch
Literaturhaus, Saal & Stream | 20.30 Uhr
20 Euro (12 Euro), Streamticket 5 Euro

29.11.
MÜNCHNER BÜCHERSCHAU: LESUNG MIT DEM GESCHWISTER-SCHOLL-PREISTRÄGER ANDREJ KURKOW
Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstr. 45
20 Uhr | 10 Euro

Ein großes Special zum Literaturfest gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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