Der Jazz-Pianist Michael Wollny spielt mit seinem Trio ein Geisterprogramm. Und das Thema reicht weit über die Chimären der Gegenwart hinaus.

Michael Wollny. Ghosts

Phantome und Erinnerung

Michael Wollny

Michael Wollny | © Gregor Hohenberg

Ganz überraschend kam es nicht, denn frühere Alben von Michael Wollny hießen beispielsweise »Wunderkammer«, »Nachtfahrten« oder »Traumbilder«. Trotzdem hat das aktuelle Programm des Pianisten und Jazz-Professors unter dem Signum »Ghost« eine neue Qualität der akustischen Erforschung des Mysteriösen. Ein Gespräch zum Geist der Zeit.

Was hat dich ins Geisterreich geführt?
Im Geisterreich bin ich ja schon länger. Ich habe mich eher gewundert, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, eine Platte zu machen, die einfach »Ghost« heißt. Genre, Bild, Erscheinung faszinieren mich seit langem, von Büchern und Filmen bis hin zu Musikstücken, die sich damit beschäftigen. Wenn man dann ein neues Programm erarbeitet, sucht man immer auch nach Klammern, die die Stücke zusammenhalten. Und da hatte ich plötzlich eine Reihe Songs vor mir, wo ich nicht mehr weiter suchen musste. Es ging einfach um Geister.

Es scheint auch sonst Thema zu sein. Als ich vor kurzem einen Vortrag über Interpretation in der klassischen Musik gehört habe, brachte der Referent Jacques Derridas Hauntologie ins Spiel.
Irre, oder? Es gibt Themen, die sich plötzlich selbst zünden. Sicher gibt es die Brille, die man aufsetzt und durch die man an vielen Ecken Ähnlichkeiten entdeckt, die man zuvor nicht wahrgenommen hat. Trotzdem habe ich das Geisterthema immer wieder aufblitzen sehen, so oft, dass ich schon befürchtet habe, ich würde da etwas doppeln. Die Hauntologie wiederum ist mir in meiner kleinen Forschungswelt vor allem in der elektronischen Musik begegnet, irgendwie auch sehr britisch, so wie sie von DJs und Theoretikern verstanden wurde. Aber mir erschien sie auf der anderen Seite auch universal. Und eigentlich geht das schon viel früher los. Man könnte eine kleine Musikgeschichte am Thema Geister erzählen. Außerdem kommt der technologische Aspekt hinzu, wenn sich in den Reproduktionsmechanismen kulturelle Gespenster zeigen. Im Sinne von Mark Fisher kann man dann sagen, dass wir alle begrenzt sind, gefangen im einem Geistersystem. Was wir neu machen, ist beispielsweise, dass wir uns Retro-Wellen aussetzen, also Vergangenem. Wenn ich mit diesen Brillen darüber nachdenke, sehe ich das mit Fishers Blick und es erscheint mir sehr scharfsinnig.

Der Retro-Futurismus gibt währenddessen zu Protokoll, dass die Zukunft auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Dann ist da noch eine Pandemie, die als Phänomen auch kaum greifbar ist. Wirkt all das auf die Musik ein?
Ich fange mit einer Nebenlinie an. Über die Universität hatte ich mit einem digitalen Forschungsprojekt in Lausanne zu tun und konnte dort einen Neurologen darüber ausfragen, was beim Musikmachen oder Komponieren eigentlich im Gehirn passiert. Alles, was man komponiert oder improvisiert, beruht zunächst auf einem Erinnerungsarchiv, das dann im Kurzzeitgedächtnis verhandelt und verknüpft wird. Das fand ich hochinteressant, etwa in Verbindung mit Fragen der Ästhetik. Was ist demnach Klangfarbe, Intuition, persönlicher Stil? Es entspricht erst einmal dem Gefühl, das man etwa beim Improvisieren hat, hat aber außerdem den Aspekt, dass Erinnerungen nicht objektiv sind. Wir erinnern uns oft falsch und persönlich geprägt. Und da komme ich zum Geisterbegriff. Was ist ein Geist? Etwas, das in der Vergangenheit passiert ist und auf die Gegenwart strahlt. Das sie prägt, heimsucht, manchmal ungerufen, ungewollt.

Wie macht sich das dann bemerkbar?
Zum Beispiel durch einen Ohrwurm, den wir nicht mehr aus den Kopf bekommen. Wir haben es nicht in der Hand, welche Stücke uns verfolgen. Als wir dann weiter über Erinnerungsarbeit sprachen, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Warum eigentlich habe ich noch nie an das Musizieren als eine Form von Heimsuchung gedacht? Wenn man nachdenkt, ist man schnell bei der Filmmusik, bei Emotionalität, bei Manipulation, lauter solchen Ideen. Außerdem ist Musik immer auch das Erzählen von Geschichten. Und Geistergeschichten machen mir sehr viel Spaß. Sie sind unterhaltsam, lehrreich und dramaturgisch spannend, weil in dem Genre ständig etwas passieren muss, um die Kipppunkte neu zu erzeugen. Im Kino etwa denkt man sich den kommentierenden Erzähler längst mit, obwohl das ein Stilmittel ist, das eigentlich aus dem Horrorfilm stammt. »Was ist das erste Spiel« meinte Hitchcock einmal, »das man mit einem Baby spielt? Buh!!« Der wohlige Schauder, schon als kindliche Erfahrung …

Die Neurologie geht ja noch weiter. Blickt man etwa in die Traumaforschung, geht es um Schmerzen, Empfindungen, Erlebnisse, die kein körperliches Äquivalent haben müssen. Um individuelle Formen von Heimsuchung. Überhaupt um Erinnern, Kodierung, Wahrnehmung, Abrufbarkeit.
Man hat es an vielen Ecken mit Phantomen zu tun. Wenn man beispielsweise versucht, harmonische Prozesse zu abstrahieren, um sie in Hierarchien darstellen zu können, nähert man sich besser von der anderen Seite, von der aus es eigentlich keine Regeln gibt. Denn sobald Regeln gelten, wird es langweilig. Ein irres Spannungsfeld, wie man eine Auflösung wählt, um etwas Inspirierendes, Ungewohntes zu erfahren, und gleichzeitig die Grenze zieht, wann etwas wieder klein oder uninteressant wird. Phantome jedenfalls sind allgegenwärtig. Die Frage ist, wann und wie man sich ihnen stellt. ||

JAZZNIGHTS: MICHAEL WOLLNY TRIO – GHOSTS
Isarphilharmonie HP 8 | Hans-Preißinger-Straße 8 | 13. Nov.
19 Uhr | Tickets: 089 5481 8181

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