Die Mut machende Ausstellung »Frei leben. Die Frauen der Boheme 1890-1920« der Monacensia präsentiert zukunftsweisende Lebensentwürfe von Schriftstellerinnen um 1900.

Frei leben. Die Frauen der Boheme 1890-1920

»Die Bedingungen für eine neue Welt«

frei leben

Drei Autorinnen der Boheme: Margarete Beutler (1903), Emmy Hennings (1912) und Franziska zu Reventlow (1895 Collage: Büro Alba, © Münchner Stadtbibliotek / Monacensia

»Wenn ich einen Sohn hätte, der Maler werden möchte, würde ich ihn nicht einen Augenblick in Spanien festhalten, und glauben Sie nicht, dass ich ihn nach Paris schicken würde«, schrieb Pablo Picasso 1897 einem Freund, »sondern nach München«: wegen der undogmatischen Ausbildungsmöglichkeiten. An der Isar gab es neben der Kunstakademie zahlreiche private Malschulen, wichtig speziell für Frauen, denn an der Akademie wurden bis 1920 weibliche Studierende nicht zugelassen. Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow hatte der Familie eine Berufsausbildung als Mädchenschullehrerin abtrotzen müssen, 1893 floh sie nach München, um bei Anton Ažbe Malerei zu studieren (wie später Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky). 1895 zerbrach ihre Flucht-Ehe, und seither führte sie ein prekäres, bald legendäres, weil selbstbestimmtes Leben in der Boheme. Die Ausstellung »Frei leben. Die Frauen der Boheme 1890–1920« präsentiert exemplarisch die Lebensentwürfe und Lebensumstände dreier Autorinnen: F. zu Reventlow, so ihr Schriftstellername, deren – das ganze System »Schwabing« umfassenden – Nachlass das Monacensia Literaturarchiv betreut, die kaum mehr bekannte Schriftstellerin Margarete Beutler, zu der erstmals Dokumente aus dem Familienarchiv zu sehen sind, und Emmy Hennings, Dada-Mitbegründerin und eine prägende Figur der »Subkultur« Boheme zwischen Berlin, München, Zürich und dem Tessin.

Unabhängigkeit, neue Beziehungsformen in und außerhalb der starren Ehe-Hierarchie, die Entscheidung zu freier Mutterschaft und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Prostitution und Scheinmoral, künstlerische Existenzsicherung und Selbstverwirklichung, das sind die Themenkomplexe der Ausstellung. Es gibt darin auch Briefe und Tagebücher, Texte und Bücher zu entdecken, etwa den hübschen Einband von Beutlers letztem Gedichtband »Leb’ wohl Bohème« (1911). Fotos zeigen Beutler und ihre Familie, die alleinerziehende Reventlow mit Sohn Rolf nackt am Strand, Hennings mit Dada-Puppe zur Zeit ihrer Auftritte im Zürcher Cabaret Voltaire. Literarische Netzwerke werden dargestellt, weitere Frauen-Positionen integriert wie die Puppenkünstlerin Lotte Pritzel und Else Lasker-Schüler. Video- und Textbeiträge aktueller literarischer Positionen in der Ausstellung und im Online-Magazin mon_boheme erweitern die historischen Positionen und Fragestellungen um heutige Perspektiven.

Die Ausstellungstexte bieten prägnante Einstiege in die Probleme, Perspektiven und den Einsatz dieser Frauen – gegen Normen, Konventionen und Rollenerwartungen. Und die ausgewählten Äußerungen treffen ins Herz. Denn was der Präsentation bestens gelingt zu vermitteln: Es ist unsere Gesellschaft, deren Zukunft damals erhofft, erkämpft, erträumt, verhandelt wird. »Ich schreibe schon die Bedingungen für eine neue Welt«, informierte Emmy Hennings 1920 brieflich ihren Lebensgefährten Hugo Ball. »Sich nicht bedienen lassen und selbst nicht dienen! Ehre weg! Ehrgeiz weg! (…) Alles selbst machen und sich verschenken, anstatt zu verkaufen. Voila!«

Emmy Hennings begann ihre unsichere Existenz als Schauspielerin beim Wandertheater, trat als Diseuse in der Künstlerkneipe »Simplicissimus« auf, wo sie die schmale Gage aufbesserte, indem sie Postkarten von sich verkaufte. Drogensucht, Prostitution, Fehlgeburt, Schwangerschaftsabbruch, mit Typhus im Krankenhaus, Mangelernährung und Gefängnishaft prägten ihr Leben in München, als sie sich zur Dichterin entwickelte.

Margarete Beutler entschied sich gegen die Festanstellung als Lehrerin, wagte eine Existenz als Schriftstellerin und Redakteurin, nachdem – wie bei Reventlow – erste Texte im »Simplicissimus« gedruckt wurden. Reventlow übersetzte für den Verlag Albert Langen aus dem Französischen, hatte 1906 wieder Malstunden genommen, bei Jawlensky, setzte aber auf eine literarische Karriere. Sie übernahm selbst den Unterricht ihres Sohnes. Ihre Wohngemeinschaft, ihre Beziehungen zu den Schwabinger Genies und Geistesgrößen sind legendär, ebenso ihre Plädoyers für die Selbstbestimmung der Frau und freies erotisches Hetärentum. Doch ohne die Einnahmen aus Prostitution kam sie nicht aus. »Ich will und muss einmal frei werden, es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dieses maßlose Streben, Sehnen nach Freiheit«, mit diesem Statement der 19-jährigen Reventlow begrüßt die Ausstellung ihr Publikum: »Ich muss gegen alle Fesseln, alle Schranken anrennen (…) und dann dieser kleinliche unaufhörlich Druck aller Verhältnisse«. Und Emmy Hennings schrieb in ihrem Roman »Das Brandmal«: »Mein einziger Beruf ist, das zu erlernen, was ich bin.« Dass diese Frauen nicht nachließen, macht Mut. ||

FREI LEBEN! DIE FRAUEN DER BOHEME
1890–1920
Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23 | bis 14. Januar 2014
Mo–Mi, Fr 9.30–17.30 Uhr; Do 12–22 Uhr;
Sa/So 11–18 Uhr | Führungen: sonntags, 14 Uhr
Seminar-Wochende der VHS im Haus Buchenried: 7.–9.10. (Kursnummer P810015, Anmeldung: 089 48006-6700)

Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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