»Memoria« mit Tilda Swinton führt zu Ermüdungserscheinungen im Kinosessel.

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Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

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Tilda Swinton in »Memoria« | © Kick the Machine Films

Und plötzlich hat es peng gemacht! Seit die britische Einwanderin Jessica Holland (Tilda Swinton) bei Tagesanbruch von einem undefinierbaren Knallgeräusch aufgeschreckt wurde, ist in ihrem Leben nichts mehr wie zuvor: Wo kam dieses seltsame Soundgewitter überhaupt her? Hat wirklich nur sie es gehört? Und hat es für ihr Leben etwas Spezielles zu bedeuten? Fortan kämpft die schweigsame Britin mit dem Faible für Blüten und Blüher mit massiven Schlafproblemen. Zugleich erinnert sie sich regelmäßig an diesen bizarren Metalllaut, der sie wiederholt zusammenzucken und wortwörtlich aufhorchen lässt. Mit dieser gewohnt mysteriösen und gespenstisch ineinander verschachtelten Ausgangssituation beginnt Apichatpong Weerasethakuls moderne Schauergeschichte »Memoria«, die bereits im Filmtitel (spanisch für »Erinnerung« und »Gedächtnis«, aber auch »Speicher«, »Verzeichnis« oder »Abhandlung«) zahlreiche Interpretationsköder auswirft, die in manchmal quälend langen 136 Minuten im Grunde zu nichts führen, um im Anschluss nur noch weitere Assoziationsfenster zu eröffnen.

Damit schreibt sich Weerasethakuls jüngster Cannes-Wettbewerbsbeitrag einerseits konsequent in dessen wahrlich morphisch-okkultes Sinneskino (»Tropical Malady«/»Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben«) ein, das auf dem renommiertesten A-Festival der Welt wiederholt mit Hauptpreisen dekoriert wurde und innerhalb der internationalen Cinéphilie nach wie vor einen Ausnahmestatus einnimmt. Nicht wenige sahen in ihm schließlich bisher einen würdigen Nachfolger für die transzendent-asketische Kinoschule von Andrej Tarkowskij über Theo Angelopoulos und Béla Tarr bis hin zu Lav Diaz oder Pedro Costa, die trotz ihrer spröden Sperrigkeit allesamt ihre eigenen Fanboys haben und nicht zuletzt in vielen Kinematheken rund um den Globus Heiligenstatus genießen.

Andererseits stellt sich angesichts der deutlich seltener gewordenen Aha-Momente, die »Memoria« in der Summe bietet, durchaus die Frage, was der 1970 in Bangkok geborene Wundermann des thailändischen Slow Cinema, der 2015 noch mit »Cemetry of Splendour« einen der besten Filme der 2010er Jahre abgeliefert hatte, eigentlich in der aktuellen Kinodekade noch wirklich Innovatives zu erzählen hat. Selbst Weerasethakuls bisher fulminante Lust daran, zwischendrin kleine filmgrammatikalische Störfeuer zu zünden, die sich sogleich ins audiovisuelle Langzeitgedächtnis einbrannten, scheint zunehmend zu erlahmen. Dagegen hilft auch kein plötzlich auftauchendes und selbstredend ominöses Raumschiff im letzten Teil des Films, was im Kern einfach zu viel des Guten ist: mit der Tendenz zur Selbstkarikatur des Regisseurs.

Selbst Tilda Swinton, die zeitgenössische Schauspielikone eines avantgardistischen Autorenkinos, beginnend bei ihrer Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief (»Egomania – Insel ohne Hoffnung«) oder Derek Jarman (»The Last of England«/»Edward II«), kann »Memoria« in ihrer allzu erwartbaren, fast schon zum Ego-Klischee erstarrten Performance keinen zusätzlichen künstlerischen Stempel aufdrücken. Stattdessen ist die meist an der Grenze zur Apathie agierende Protagonistin zu Beginn von »Memoria« im kolumbianischen Bogotá unterwegs, um ihre Schwester zu besuchen, wo sie sich mit der Archäologin Agnes Cerkinsky (Jeanne Balibar) anfreundet.

Diese wiederum untersucht gerade menschliche Überreste, die beim Bau eines Tunnels gefunden wurden, wofür sich schließlich auch die Orchideenforscherin Jessica interessiert, die ebenfalls zur Ausgrabungsstätte fährt. Anschließend trifft sie in einer nahe gelegenen Kleinstadt Hernan (Elkin Diaz), der Fische schuppt, als Tontechniker arbeitet und in gemeinsamen Gesprächsrunden mit seinem weiblichen Gast ebenfalls diverse Erinnerungen teilt. Das passiert in Weerasethakuls Regie naturgemäß in traumartigen Tableaus, extrem langen und meist wortlosen Einstellungen (Bildgestaltung: Sayombhu Mukdeeprom), die den Kontrast zwischen Stadt und Land, Natur und Seele, Mythos und Geschichte betonen.

Nur dass sich dieses Mal eben an keiner Stelle das Gefühl einstellt, als Zuschauer Teil eines regelrechten Tropentrips zu werden. Und so führen diese abermals präsentierten luziden Halbwachzustände im Ergebnis zu echten Ermüdungserscheinungen im Kinosessel. Kurzum: Diese magisch-meditative Wunderkammer Weerasethakuls erstarrt überwiegend bloß in visuellen Echos und auditiven Wiederholungsmustern. Und so erlangt die den Regisseur sonst so kennzeichnende Mixtur aus Animismus und Parapsychologie in »Memoria« tatsächlich keine Durchschlagskraft. Was bleibt, ist mehr kinematografische Behäbigkeit denn tranceartige Erweckung. ||

MEMORIA
Frankreich, Deutschland, Kolumbien, Thailand 2021 | Regie: Apichatpong Weerasethakul
Mit: Tilda Swinton, Jeanne Balibar, Elkin Diaz u.a. | 136 Minuten | Kinostart: 2. Juni
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