Das DOK.fest startet nach zwei Pandemiejahren wieder in analoger Form, die digitale Sphäre wird freilich nicht vernachlässigt.

DOK.fest 2022

Thriller aus dem wahren Leben

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»Nawalny«

Die Welt hält einfach nicht still. Gerade als zumindest das Gefühl aufkommt, man könnte so langsam einen Schlussstrich unter die Pandemie setzen, tobt Krieg auf europäischem Boden. Doch auch wenn man das Gefühl hat, die Gegenwart greife das eigene Sicherheitsbedürfnis besonders an, die Zeiten waren nie einfach. Stammzuschauer des DOK.fest, das am 4. Mai mit 124 Filmen in die 37. Runde geht, wissen das. Doch auch Leiter Daniel Sponsel sieht das unangenehm Besondere der jetzigen Situation. »Der Krieg und Corona haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Aber insofern schon, da man sieht, dass die Hürden und Aufgaben immer größer werden. Die Normalität, die wir glaubten zu haben, lässt sich nicht mehr so einfach herstellen.«

Im Osten nichts Neues

Schon der Eröffnungsfilm »Nawalny« ist ein direkter Kommentar zu den Geschehnissen im Hier und Jetzt. Regisseur Daniel Roher begleitet den russischen Oppositionellen und PutinGegner auf der Jagd nach den Tätern, die ihn 2020 mit dem Nervengift Nowitschok versuchten zu töten. Was man nun auf der Leinwand erlebt, kann man getrost und ehrlich als Thriller bezeichnen. »So spannend sind Dokumentarfilme selten«, sagt auch Sponsel. Als Zuschauer ist man hautnah dabei, wie Nawalny und sein Team im Schwarzwald recherchieren und sogar die Verantwortlichen ans Telefon bekommen. Kurz gesagt, man sieht einem Stück Geschichte beim Entstehen zu. Es wird aber auch gezeigt, dass Nawalny kurz nach seiner Rückkehr nach Russland ins Gefängnis gesteckt wurde, wo er auch noch jetzt einsitzt. Mit dem Beginn des Abspanns ist also noch lange nicht alles vorbei.

Der Themenkomplex Osteuropa wird auch in einigen anderen Beiträgen behandelt. »A House Made of Splinters« (R: Simon Lereng Wilmont) begleitet vier Kinder in einem Kinderheim der Ostukraine, Loup Bureau zeigt mit »Trenches« den Kampf ukrainischer Soldaten und prorussischer Separatisten im Donbas, »Pushing Boundaries« (R: Lesia Kordonets) erzählt vom ukrainischen Paralympicsteam, dessen Sportlerinnen sich kurz nach der Annexion der Krim auf die Spiele in Rio de Janeiro vorbereiten. Speziell dieser Film habe eine besondere Wucht inne, wie Daniel Sponsel betont. »Es ist unglaublich intensiv zu sehen, wie diese Sportlerinnen im eigenen Leben zu kämpfen haben und dann auch noch inmitten dieses gesellschaftlichen Kontextes stehen.« Logischerweise wurden alle Filme noch vor dem Beginn des aktuellen Krieges eingereicht. Daran sieht man, dass das, was wir jetzt erleben, nur die tragische Spitze des Eisbergs ist.

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»Pushing Boundaries«

Doch auch der Rest der Welt dreht sich weiter, wenn auch der Schatten der Vergangenheit noch auf ihr liegt. Deutlich wird das am diesjährigen Gastland Spanien. Filme wie »Pico Reja. La Verdad Que La Tierra Esconde« (R: Remedios Malvárez, Arturo Andújar), »Franco’s Promise« (R: Marc Weymuller) und »Franco on Trial; The Spanish Nuremberg« (R: Lucía Palacios & Dietmar Post) behandeln die Nachwirkungen der immer noch mäßig aufgearbeiteten Zeit des Faschismus. Gegenwärtige Themen, wie das Wackeln des Männlichkeitsideals in »El Círculo« von Iván Roiz, werden jedoch genauso angesprochen wie die Auswirkungen des Massentourismus (»Magaluf Ghost Town«, R: Miguel Ángel Blanca). Die diesjährige Hommage ehrt die Schweizer Regisseurin Heidi Specogna, deren neuestes Werk »Stand Up My Beauty« auf dem Programm steht. »Sie wagt sich in besondere Regionen dieser Erde vor – und nicht in die einfachsten. Sie erschafft menschliche Porträts und nahe Beschreibungen der Gesellschaft. Wir halten das gerade in diesen Zeiten für wichtig.«

Aber auch »unsere« Welt, die uns auf den ersten Blick vertrauter scheint, ist das Thema vieler Beiträge. Besonders hervor hebt Daniel Sponsel »Girl Gang«, in dem Susanne Regina Meures die Influencerin Leonie Balys begleitet, die als normales 14-jähriges Mädchen ihre Karriere begann und inzwischen über 1,6 Million Follower hinter sich hat. »Ehrlich gesagt ist das ein Film für Eltern«, meint Sponsel. »Vielen davon ist diese digitale Welt in ihren Ausmaßen sicher nicht bewusst.« In weiteren Beiträgen begleitet man Politiker der AfD beim mal komischen, mal haarsträubenden Politalltag (»Volksvertreter«, R: Andreas Wilcke), junge Geflüchtete auf der Suche nach Glück und Halt in einem Steinbruch (»Rotzloch«, R: Maja Tschumi) und Sabine Derflinger, die im gleichnamigen Porträt auf das Schaffen von Alice Schwarzer zurückblickt.

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»Girl Gang« | © DOK.fest München 2022 (3)

Ein Fest für Leinwand und Bildschirm

Erst einmal offen ist jedoch der Weg für eine Premiere, die bereits 2021 hätte anstehen sollen: das DOK.fest als duales Festival. Nachdem es sich mit großem Erfolg bereits zwei Mal ausschließlich in digitale Sphären verlegen musste, ist es nun so weit, dass auch die Kinos der Stadt wieder bespielt werden dürfen. »Unsere Hoffnung liegt darin, dass wir allen gerecht werden. Den Leuten, die hier ins Kino gehen, und den Zuschauern in ganz Deutschland, die uns durch das Onlineangebot komplett neu entdeckt haben.« Daniel Sponsel geht es dabei natürlich nicht in erster Linie um reine Zugriffe und Statistiken. »Ein Film wie ›Pushing Boundaries‹ hat keinen deutschen Kinostart und wird auch wahrscheinlich nicht im Fernsehen gezeigt werden. Wir bringen ihn den Leuten bundesweit auf dem Silbertablett ins Wohnzimmer. Ich finde, wir erbringen damit eine gesellschaftliche Leistung. Mehr als andere Filme, können Dokumentarfilme ein Beitrag zum Diskurs sein.« Dem DOK.fest kann man auch 2022 wieder nur alles Gute wünschen. Der Welt will man im Grunde dasselbe wünschen, angesichts der Realität kommt einem das doch mitunter naiv vor. Der fruchtbare Diskurs wäre jedoch schon mal ein erster Schritt in Richtung Besserung. ||

DOK.fest München | 4. bis 15. Mai | Programm

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