Skandal-Regisseur Gaspar Noé legt mit »Vortex« seinen bisher ruhigsten Film vor – aber wohl auch seinen traurigsten.

»Vortex« von Gaspar Noé

Der schleichende Verlust

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Françoise Lebrun und Dario Argento nähern sich in »Vortex« dem unweigerlichen Verlust | © Rapid Eye Movies

Nach einiger Zeit fragt man sich schon, ob man im falschen Film sitzt. Kein harter Sex, keine brutale Gewalt; übelkeiterregende Kamerafahrten gibt es hier ebenso wenig wie verstö- rende Musikspuren. Dabei ist doch Gaspar Noé (»Irreversibel«, »Menschenfeind«, »Climax«) für diesen Film verantwortlich. Man kann durchaus sagen, dass »Vortex« sein bisher erwachsenstes Werk ist. Und doch ist es unverkennbar ein Noé, denn er geht schonungslos an die Substanz.

Zwei Stunden begleitet man in ihm das gemeinsame Leben von Elle und Lui, einem alten Ehepaar. Schnell wird jedoch offensichtlich, dass hier nicht viel Gemeinsames mehr geteilt werden kann. Elles Gehirn wird von Alzheimer zerfressen, Lui, ein Filmkritiker, der gerade an seinem Buch über den Zusammenhang von Film und Träumen schreibt, versucht sich um seine immer weiter entgleitende Frau zu kümmern. Doch da auch er vom Alter gezeichnet ist, kann dieser Kampf nur verloren werden. Ein Heim, wie es der Sohn Stéphane (Alex Lutz) vorschlägt, kommt natürlich nicht in Frage, schließlich will man doch nicht eine Vergangenheit aufgeben, die man mit so viel Liebe und Mühe aufgebaut hat. Es ist eine der kleinen Tragödien, wie sie das Leben tagtäglich aufführt.

Mit der Besetzung hat sich Noé offensichtlich einen Herzenswunsch erfüllt. In den Hauptrollen sieht man keine geringeren Darsteller als die französische Filmikone Françoise Lebrun (wohl am bekanntesten durch Jean Eustaches »Die Mama und die Hure«) und den italienischen Meister des Giallo-Horrors, Dario Argento. Die Größe dieser Namen rückt jedoch immer mehr in den Hintergrund, so authentisch spielen die beiden ihre Rollen, so kalt und realistisch ist Noés Inszenierung. Mehr als einmal denkt man an Michael Hanekes »Liebe«. Die Reife, die »Vortex« ausstrahlt, kommt nicht nur von der Beschäftigung mit Problemen des Alters, sondern auch vom Verzicht auf die bekannten Schockeffekte. Grundlegende Gedanken über den Tod, das Festhalten und die Vergänglichkeit prägen diesen Film deutlich, der mitunter eine schon dokumentarische Atmosphäre besitzt.

Aber so ganz naturalistisch ist »Vortex« dann doch nicht. Bis auf wenige Szenen zeigt er seine Geschichte im Splitscreen. Die eine Hälfte der Leinwand begleitet Elle, die andere Lui. Auch wenn sich beide im selben Raum befinden, die Perspektiven sind immer unterschiedlich. Das als bloße Spielerei abzutun, wäre falsch. Vielmehr wird hier deutlich, wie sehr diese beiden Menschen bereits voneinander getrennt sind. Auf der einen Seite Elles ziellose Wanderungen durch die verwinkelte Wohnung, auf der anderen Luis gezieltes Abhaken der täglichen Rituale. Schnell wird direkt fühlbar, dass es für dieses Paar keine Hoffnung mehr gibt. Bis zum Tod wird jeder in seinem eigenen Film bleiben, keiner wird je wieder zum anderen finden.

Es lässt sich nicht anders sagen, »Vortex« ist ein abgrundtief trauriger Film. Aber einer, den man gesehen haben sollte, denn so wie Gaspar Noé ziehen einen nicht viele Regisseure in einen emotionalen Wirbel. Zudem ist es faszinierend, die Handschrift seines Regisseurs zu erkennen, auch wenn er hier etwas für ihn vollkommen Neues geschrieben hat. Ein großer Film über die unaufhaltsame Macht des Verlusts – aber auch eine Erinnerung an das, was man ihr zum Trotz festhalten sollte. ||

VORTEX
Frankreich, Belgien 2021 | Regie: Gaspar Noé
Mit: Dario Argento, Françoise Lebrun u.a. | 142 Minuten
Kinostart: 28. April
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