Das Phänomen des Retrofuturismus: Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Warum eigentlich?

Retrofuturismus

Heimweh nach der Utopie

retrofuturismus

Man muss nur auf die Füße achten. Der urbane, leidlich solvente Durchschnittshipster trägt derzeit optisch nur mühsam verkleidete Arbeitsschuhe. Man könnte den modischen Siegeszug der Docs schlicht als ästhetische Entgleisung verstehen, ließe sich daran nicht vorbildlich der Prozess der Semantisierung von Vergangenheit ablesen. Die Prototypen der Arbeitsstiefel hatte der ehemalige Wehrmachtsarzt Klaus Märtens unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, aus Gummi- und Lederresten von Armeebeständen und der eigenen Idee, die solide Arbeitssohle mit Luftpolstern zu durchsetzen, um ein Mindestmaß an Tragekomfort zu gewährleisten. Das Konzept fand in einer auf Haltbarkeit bedachten Ära Anklang. Märtens bestückte den deutschen Markt bis in die späten Fünfziger von Feldafing und München aus, im folgenden Jahrzehnt lizenzierte die Northamptonshire Productive Society Ltd. den Schuhtyp nach England, wo er sich als besonders strapazierfähiger Arbeitsschuh unter anderem bei Fabrikarbeitern, Postboten, Polizisten bewährte. Als der linksproletarische Punk nach Insignien suchte, um sich optisch von der gelackten britischen Mittel- und Oberschicht abzusetzen, boten sich in den späten Siebzigern die ein wenig martialisch wirkenden, klobigen Dr.-Martens-Boots an, um Haltung schon auch mal mit Nachdruck zu vertreten. Als Appendix der Arbeiterklasse vermittelten sie – mal abgesehen von den Boots mit den falschen Schnürsenkeln der rechten Skinheads – die passende Aura des DIY-Modischen, unterstützt von Modezarinnen wie Vivienne Westwood und Szenestars wie Anne Clark oder Dave Gahan von Depeche Mode.

Sind wir nicht alle ein bisschen Punk?

Doch der Narzissmus der Neunziger überholte die Attitüde des Authentischen. Dr. Martens AirWair schloss 2003 die Fertigung in England, zog mit den Fabriken nach Vietnam, Thailand, China, arbeitete an einem neuen Image und vermarktete von 2007 an »Vintage Collections« mit erneut wachsender Beachtung durch die Konsumwelt. Besondere Eigenschaften: altmodische Optik, gehobenes Preissegment, Haltbarkeit, das implizite Antimodell zur Fast Fashion, mit zunehmender Popularität unterstützt auch durch vegane Produktlinien, um das Achtsamkeits-Segment zu bedienen. Und das Bedürfnis nach Verankerung im vermeintlich emotional Echten des Vergangenen. Sind wir nicht alle ein bisschen Punk! Die Marke Dr. Martens wurde übrigens 2013 vom Finanzinvestor Permira übernommen und ging 2021 erfolgreich an die Börse. An den Füßen der Kund:innen macht sie ausdauernd der Sneakerideologie der Selbstoptimierer:innen Konkurrenz. Wer dem etwas entgegenhalten will, kann ja neben der knallbunteren Nike-Wolkigkeit zu Buffalos greifen, der an sich absurden, an frühneuzeitliche Chopinen (seit 1438 in Spanien nachgewiesene Schuh-Türme) anknüpfenden Idee von Plateausneakers, die wirken wie ein Setdesign-Unfall von Luigi Colani, sich aber perfekt für »Zurück in die Zukunft IV« eignen würden. Dazu Techwear mit reichlich Außentaschen und Workerjacken von Engelbert Strauss, mit denen man zur Not auch noch in den öligen Garagengraben klettern kann, um am eigenen Oldtimer zu schrauben. Oder sich aufs Lastenrad schwingen, um den körnig ernährten Nachwuchs aus dem Homeoffice in die Kita zu navigieren. Baumarkt trifft Laufsteg, Nachhaltigkeits-Urbanität, Uneigentlichkeit im Eigentlichkeitsoutfit. Ein wunderbar verwirrender, postpandemischer Bilder- und Mythenschwurbel, der derzeit dem Zeitgeist zusetzt.

Party auf der Autobahn

Denn der neigt gerade zu eschatologischem Heimweh, vermittelt über verschiedene Spielarten von Jubiläen, Rückblicken und Verklärungen. Man merkt das zum Beispiel an Olympia, für das sich jenseits der totalitären Selbstdarsteller nur wenige Kommentatoren ernsthaft als Beispiel für weltoffenen Sportsgeist begeistern können. Was für ein Unterschied zu den Jubiläumsspielen 1972, mit denen sich (West-)Deutschland nichtbnur vom Stigma der Hitler-Spiele 1936 freiveranstalten konnte, sondern darüber hinaus München neben dem Innovationsschub einschließlich U-Bahn mit dem von Günter Behnisch konzipierten Olympiagelände auch ein Musterbeispiel futuristischer Architektur bescherte. Hätte nicht die palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September mit der Geiselnahme und Ermordung israelischer Olympioniken die Spiele überschattet, wäre ausschließlich Glanz als Erinnerung geblieben.

Ein anderes Beispiel sind die »Grenzen des Wachstums«. Im März 1972 veröffentlichte der Club of Rome, ein seit April 1968 tagender und sammelnder Kreis von Wissenschaftlern, Politikern und Menschenfreunden um den römischen Industriellen Aurelio Peccei seine Analyse zur Fortentwicklung eines marktwirtschaftlich kapitalistischen Systems. Diese unabhängige Studie konstatierte bereits damals Umweltverschmutzung, den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen, weitverbreitete Unterernährung bei gleichzeitig rasch wachsender Weltbevölkerung und die sich beschleunigende Industrialisierung als Kernbedrohungen für den blauen Planeten. Damals war die Zukunft zwar bedroht, ihre Rettung lag aber noch im Bereich des menschlich Machbaren, wenn man sich eben ein wenig anstrengte. Die bald darauf folgende erste, wenn auch politisch motivierte Ölkrise sorgte 1973 hierzulande als größte anzunehmende Apokalypse für vier autofreie Sonntage und leider nur zeitweilige Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit, was weniger zu Endzeitstimmung, sondern vielmehr zu Flaneuren und Partys auf Autobahnen führte. Noch war alles klar auf der Andrea Doria und auch die sich im Kalten Krieg manifestierende Angst vor einem Atomkrieg hatte im gegenseitigen Abschreckungsszenario das Element einer zwar absurden, aber durch rote Telefone steuerbaren Übersichtlichkeit.

Zukunftsoptimismus als Farce

Die Zukunft blieb anthropozentrisch berechenbar, die Besatzung der Enterprise durchzog die unendlichen Weiten weiterhin auf der Suche nach kompatiblen Zivilisationen, und selbst ein Krieg der Sterne war nicht viel mehr als eine in die Schwerelosigkeit verlegte Mischung aus Ritterfilm und Western. Zwar gab es immer die Auguren der Dunkelheit wie Stanley Kubrick oder Stanislav Lem, das utopische Lebensgefühl aber war Castaneda, Bhagwan oder Major Tom näher als dem psychotischen Ozean von »Solaris«. Die Situation kippte allerdings, als zu den prognostizierten Grenzen des Wachstums auch die Grenzen der Technik kamen. Der erste Vorbote war die partielle Kernschmelze im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island am 28. März 1979, bei der ein Reaktorblock zerstört wurde. Nur durch viel Glück wurde eine umfassende Umweltkatastrophe verhindert, die Begeisterung für die vermeintlich saubere Atomenergie nahm aber weltweit erheblich ab, zumal es im selben Jahr in New Mexico einen radiologisch noch schwerwiegenderen Unfall in einem Uran-Abbaugelände gab, bei dem 400.000 Tonnen verstrahltes Wasser in den Puerco River flossen und über Nebenarme dann auch die Touristen im Grand Canyon beleuchteten. Als im April 1986 das nahe der ukrainischen Stadt Prypjat gelegene russische Kernkraftwerk Tschernobyl weniger Glück hatte und dessen Reaktor Nr. 4 explodierte, mit der Folge, dass nicht nur die unmittelbare Umgebung verseucht wurde, sondern radioaktiver Niederschlag sogar hierzulande noch jahrelang deutlich messbar war, bekam der allgemeine Technikoptimismus weiter Schlagseite. Das von den Punks noch mit einer gewissen Ironie an die Wand gesprayte »No Future« entwickelte auch für Normalbürger eine prophetische Dimension. Und zum Pilzesammeln konnte man auch nicht mehr gehen, weil die Mushrooms mehr als magic geworden waren.

Der neue, skeptische Diskurs wurde auch medial und künstlerisch vielfältig antizipiert. Während ein Douglas Adams in Monty-Python-Tradition seinen Vorstadt-Loser Arthur Dent von 1977 an noch widersinnig durch den Weltraum stolpern ließ, wirkte Terry Gilliams »Brazil« (1986) wie eine kafkaeske Überspitzung der überwachungsstaatlichen, weltverrümpelnden Technikeuphorie. Aus der Heilsgeschichte wurde eine Unheilsgeschichte. John Carpenters New York der »Klapperschlange« hatte sich vorahnungsvoll 1981 in ein zivilisationsmüdes, ummauertes Gefängnis verwandelt. Während Steven Spielberg weiterhin an freundliche Gnome aus dem All glaubte, schredderte Ridley Scott mit »Alien« (1979) zunächst die Vorstellung der freundlichen Begegnung mit der anderen Art und ließ drei Jahre später den »Blade Runner« in monströs neondunkler Großstadthölle Jagd auf unerlaubt autonom agierende Cyberpunk-Androiden machen. Als dann 1984 der Terminator aus der Zukunft kommen musste, um die paramilitärische Apokalypse zu verhindern, war klar, dass man kaum noch etwas Gutes erwarten durfte. Und spätestens mit »Matrix« (1999) hatte sich der Kosmos der technologischen Verheißung auf der Kinoleinwand in einen Albtraum mit Tendenz zur Maschinenhölle verwandelt, der in der realen Welt von der galoppierenden, für den singulären Geist schwer zu fassenden Digitalisierung eingeholt zu werden drohte.

Wo bist du, Gewissheit

Zukunft hatte keine Zukunft mehr, zumindest nicht die lineare Idee einer fortschreitenden Verbesserung durch technische, marktliberale Innovation. Die Wirklichkeit allerdings erwies sich ideengeschichtlich als widerstandsfähiger als die gedachten Utopien. Einerseits wurde das digitale Netz Alltag. Mensch und Technik verknüpften sich in weitgehender Konsequenz, ohne dass eine Matrix als Matrize herhalten musste. Auf der anderen Seite wird das Digitale inzwischen zwar ausgiebig für Dienstleistungen vieler Art genutzt, ist aber zugleich Ausgangspunkt unscharfer Ängste vor der Unübersichtlichkeit des Komplexen. Während die einen bereits das umfassend Virtuelle des Metaversums preisen, ist für die anderen das Krakenhafte von Big Data der Golem der Gegenwart. Und da wiederum knüpft beispielsweise die retrofuturistische Sehnsucht nach einer goldenen, kontrollierbaren, dem Menschen untertänigen Zukunft an. Wes Anderson reimaginiert in »The French Dispatch« die vermeintlich heile Zeitungswelt von einst, wo schrullige Redaktionen noch seltsame Geschichten aufdeckten. Denis Villeneuves »Dune« unterscheidet sich nur wenig von der 1984er-Verfilmung durch David Lynch, einschließlich idealistischer Partisanenmoral im Utopiestil der Sechziger.

Eine Serie wie »Dark« wiederum verknüpft die Atomkraftängste der Achtziger mit der Komplexitätsvorstellung netzwerkartigen Erzählens. »Stranger Things« landet als Komplettdesign im Mythencocktail der Achtziger, »Squid Game« ist Serientrash in der Schwebe zwischen »Hunger Games« und Techno-Splatter-Gamer-Horror. Die KIs von »Ex Machina« bis »Maschinen wie ich« sind beängstigend oder depressiv, und kompetente neue Superheld:innen erscheinen nicht am Horizont. Bond ist tot, ob er als weibliche PoC noch die gleiche sein wird, ist fraglich. Sogar der Mond kommt inzwischen von seiner Bahn ab. Und nicht zuletzt nagt die globale pandemische Ohnmachtserfahrung am Selbstverständnis einer geglückten Gegenwart, deren individualistisches Konzept eines konsumkapitalistischen Erlebens und Erfüllens nicht mehr haltbar zu sein scheint. An den Rändern der zivilisatorischen Gewissheit stehen Autokraten mit tatsächlichen oder wirtschaftlichen Armeen, warten auf den günstigen Augenblick, und dann der Klimawandel, oh my God! Das kann es ja wohl nicht sein. Wird Zeit, dass wir uns erinnern, dass Zukunft eigentlich etwas Gutes verheißt. Die Aktivist:innen von »Fridays for Future« halten das Prinzip Hoffnung schon einmal für denkbar, und ein frischer Bestseller wie Kim Stanley Robinsons »Das Ministerium für die Zukunft« versteht die kommenden Jahrzehnte als große Reifeprüfung eines pankulturellen, kollektiven Intellekts, der vor allem die Abgründe gieriger Dummheit und bequemer Lethargie hinter sich lassen muss. Vielleicht kommt da ja was, noch bevor alle Docs platt gelaufen sind. ||

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