Łukasz Twarkowski und Anka Herbut laden mit »WoW – Word on Wirecard« zum Reenactement eines Skandals.

WoW – Word on Wirecard

Spekulation = Simulation?

wow

Doppelte Bürowelt – welche ist simuliert? | © Gabriela Neeb

Manche Kleinanleger dürften sich gewünscht haben, am 18. Juni 2020 ein zweites Mal aufzuwachen. Aus dem Strudel der Hiobsbotschaften nämlich, die an diesem Tag den Absturz des börsennotierten Zahlungsdienstleisters WireCard ins Bodenlose besiegelten. Hoch gepokert, tief gefallen, Tausende Angestellte und Aktionäre mit in die Verlustzone gerissen, so die Bilanz des 1999 in Aschheim bei München gegründeten Konzerns. 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten erwiesen sich als Luftbuchungen, und der dafür hauptverantwortliche Manager, Jan Marsalek, scheint sich seither ebenfalls in Luft aufgelöst zu haben. – Aber nicht ganz, denn nun begrüßt er uns auf der Bühne der Therese-Giehse­-Halle mit diabolischem Lächeln – zumindest als Deepfake-­Projektion: Er sei noch etwas unpässlich, schließlich war das alles ein wilder Ritt. Und den dürfen wir nun in »WoW – Word on Wirecard« von Anka Herbut noch einmal miterleben: die letzten 36 Stunden vor dem Crash als Lifesimulation im Großraumbüro.

Irgendwas scheint sich da schon anzukündigen, die Angestellten starren nervös auf die flimmernden Börsenkurse und überlebensgroß von den Breitwand-­Videoscreens über der Bühne, der CEO schreit ins Telefon »Natürlich sorge ich dafür, dass das Narrativ stimmt!« und im virtuellen Aquarium im Hintergrund schwimmt ein dicker Hai mit den kleinen Fischen. Der polnische Theatermacher und Videokünstler Łukasz Twarkowski hat ein Faible für komplexe soziale Versuchsanordnungen und sorgte schon letztes Jahr mit »Respublika«, einem immersiven Zukunftscamp im Utopia, für ein mitreißend multiperspektivisches Rundumerlebnis, das das Publikum hautnah zu sich hereinholte und nach sechs Stunden in einem euphorischen Rave mündete.

Bei »WoW« geht es dagegen frontal ab in den Abgrund, drei Stunden lang mit einer Pause, in der man sich kurz unter die Belegschaft, darunter Annette Paulmann als skeptische Analystin und Stefan Merki als gestresster (Krisen­)Manager, mischen und die von Fabien Lédé elegant designte Bürolandschaft mit Topfpflanzen, flaschengrünen Sitzmöbeln, Glaskabinen und Post­its an den Bildschirmen aus der Nähe erkunden darf. Danach müssen wir alle wieder zurück auf die Tribüne, um den Countdown mit bombastischem Wummersound von Lubomir Grzelak weiter an uns vorbeirauschen zu lassen. Denn der Wirecard-Skandal ist nur einer der heißen Drähte, die Autorin Anka Herbut in ihrem Text miteinander verzwirbelt hat. Die anderen sind der Science­-Fiction­-Klassiker »Simulacron­3« von DanielF. Galouye aus dem Jahr 1964, der die Vision einer zu Marktforschungszwecken virtuell manipulierten Lebenswelt vorwegnimmt und in Motiven der »Matrix«­-Serie wieder aufscheint, sowie dessen Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder als Zweiteiler »Welt am Draht« (1974). Wer da nicht vorinformiert ist, kann leicht den Überblick verlieren – oder einfach mit den schillernden Figuren mitschwimmen. So gelingt Elias Krischke ein eindrucksvolles Kammerspiel­-Debüt als stoische »Kontakteinheit« Dr. Stiller, der im Auftrag des ominösen Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung durch die programmierte Scheinwelt flaniert und dabei durchaus körperlich einer sanft­kaltblütigen Shortsellerin (Alina Sokhna M’Baye, ebenfalls Ensemble-Neuling) verfällt.

Alle Abläufe sind bis in die Livekamerafahrten virtuos choreografiert und visuell dicht getaktet. Und doch bleibt das Spiel mit den Realitätsebenen inklusive Verweis auf Baudrillards Simulacrum-­Theorie der referenzlosen Zeichen am Ende doch spekulativ – so ist das wohl mit Simulationen, äußerlich machen sie was her, aber auf Nachdruck zerplatzen sie leicht wie Seifenblasen – oder Anlegerfantasien. ||

WOW – WORD ON WIRECARD
Kammerspiele | 11., 13. Dez. | 19.30 Uhr | Tickets: 089 23396600

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