Von 9. bis 11. März findet wieder das internationale Literaturfestival Wortspiele im Muffatwerk statt. Dreißig junge deutschsprachige Autorinnen und Autoren werden in diesem Jahr ihre neuen Bücher vorstellen. Unter ihnen die Münchnerin Annika Domainko, mit der wir über ihren Roman »Ungefähre Tage« sprachen.
Annika Domainko im Interview
»Niemand kennt einen Täter«
Annika Domainko arbeitet als Sachbuchlektorin im Münchner Hanser Verlag. Zuvor studierte sie Latinistik und Klassische Archäologie in Heidelberg und Cambridge. In ihrem Debütroman »Ungefähre Tage« verhandelt sie Themen wie Machtmissbrauch, Angst und Kontrollverlust in der Geschichte einer Patientin in einer geschlossenen Psychiatrie und ihrem Pfleger. Tobias Obermeier sprach mit Domainko über das Schreiben, das Lektorieren und die Graubereiche von Missbrauch.
Frau Domainko, Sie arbeiten hauptberuflich als Sachbuchlektorin im Hanser Verlag. Haben Sie auch Ihr eigenes Buch lektoriert?
Nein, um Gottes willen! Ich bin ja Sachbuchlektorin. Von daher habe ich nicht nur die Seite gewechselt, sondern auch das Genre. Ich hatte eine ganz tolle Lektorin bei C.H. Beck, die das übernommen hat und sehr wertvoll für die Arbeit war. Selbst sieht man Dinge oft nicht mehr. Die Figurenentwicklung, die Plotstruktur. Es war wahnsinnig spannend, nicht zu lektorieren, sondern lektoriert zu werden und die andere Seite des Arbeitsprozesses zu sehen.
Wie kamen Sie zu der Idee des Buchs?
Wir haben ja spätestens seit #metoo gelernt, anders über Missbrauch und Gewalt zu sprechen. Missbrauch muss nicht laut, grell, in einer dunklen Gasse oder unter körperlicher Gewalt stattfinden. Die Graubereiche haben mich interessiert. Hinzu kam das paradoxe Phänomen, dass jeder, mit dem ich spreche, eine Frau kennt, die so was erlebt hat. Aber niemand kennt einen Täter. Das kann statistisch nicht funktionieren. Wir schieben das aus unserer normalen Lebenswelt raus. Die Täter, das sind die Psychopathen oder das große Andere, das Böse, dabei sind es ja oft sehr subtile Vorgänge, die stattfinden. Es sind Menschen, die einen ganz normalen Beruf ausüben und ein ganz normales Leben führen. Ich habe dann überlegt, in welchen Rahmen ich das Ganze packe und mich für die Situation in der Psychiatrie entschieden. Das ist ein Bereich, in dem man diese Machtstruktur ganz gut abbilden kann, wo nicht körperliche Gewalt das Kriterium für den Missbrauch ist, sondern schlicht das ungleiche Machtverhältnis und die Abhängigkeit.
Man ertappt sich auch beim Lesen dabei zu denken, das passiert im Einvernehmen beider Seiten. Aber hier herrscht ein klares Abhängigkeitsverhältnis vor.
Ja genau. Diese Dynamiken fand ich interessant. Viel interessanter als Situationen, die jedem sofort einleuchten. Das darzustellen, funktioniert in einer Erzählung oder in einem Roman viel besser, als wenn man einen analytischen Artikel darüber schreibt. Diese emotionalen Ambiguitäten und dieses Hin und Her zwischen Innen- und Außensicht kann man hier direkt abbilden und sprechen lassen. Es wird sozusagen nicht von oben herab seziert und nicht schon vorab interpretiert.
Ihr akademischer Hintergrund zeigt sich vor allem in den archäologischen Anspielungen, die im Buch vorkommen. Der antike Aphaiatempel, den der Protagonist mit seiner Familie in Griechenland besucht, und der archäologische Podcast, den er anhört. Welche Rolle spielt Archäologie für Sie in diesem Roman?
Für mich war es in dem Fall eine sehr interessante Metapher, nicht zuletzt wegen Michel Foucaults Archäologiebegriff, der auch in der Psychologie und in den Machtdiskursen in der Psychiatrie eine große Rolle spielt. Und ich fand, dass es ein interessantes Spiel sei, einen Protagonisten zu haben, der auch in archäologischen Kategorien denkt, weil er das studiert hat. Die Idee von der eigenen Geschichte und ihren verschiedenen Schichten, die sich übereinanderlegen und die man sezieren und wieder auseinandernehmen muss, um zu verstehen, was dahintersteckt.
Wie findet man nach der Arbeit als Lektorin noch die Zeit zu schreiben?
Ich mache es tatsächlich andersrum. Ich schreibe meistens vor der Arbeit. Ich stehe sehr früh auf und schreibe morgens, weil ich es schwierig finde, wenn ich den ganzen Tag Manuskripte bearbeitet und kritisiert habe, abends noch den Elan zu finden, selbst zu schreiben. Andersrum funktioniert das ein bisschen besser. Morgens ist die innere Kritikerin schwächer als am Abend.
Wie lange haben Sie an dem Buch geschrieben?
Die Idee hatte ich schon sehr lange, aber es dauerte, bis ich die richtige Perspektive und den richtigen Ton gefunden habe. Nachdem ich den einmal hatte, habe ich etwa vier Monate durchgeschrieben. Ich habe niemandem gesagt, was ich da mache. Selbst mein Mann wunderte sich, warum ich abends und am Wochenende immer mit dem Laptop auf dem Sessel saß.
Sie haben das Buch zunächst nur für sich selbst geschrieben?
Ja genau, einfach nur so. Danach kam erst die Arbeit. Später mit der Lektorin und vorher auch mit den ersten Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, die das Manuskript gelesen haben. Da haben viele Menschen schon früh Ideen und Anregungen eingebracht, die auch eingeflossen sind. Aber der eigentliche Schreibprozess ging relativ geradlinig und schnell.
Was würden Sie Menschen mitgeben, die selbst ein Buch schreiben möchten?
Viel lesen! Und den Mut haben, den eigenen Ton zu finden und auch erst mal zu schreiben und zu probieren ohne ein fixes Ziel. Schauen, was man mit Sprache machen kann, was mit den Figuren passiert, wenn man sie machen lässt. Sich herantasten, ohne zu verbissen zu sein, mit offenem Ausgang arbeiten. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache, um einen unvoreingenommenen Blick auf das zu bekommen, was man da tut. Und dann, wenn es Formen annimmt, den Mut zu haben, es Menschen lesen zu lassen und sich auch an einen Verlag zu wenden.
Wann war für Sie der Moment da, an dem Sie zu sich gesagt haben: »Ich bin Schriftstellerin«?
Auf den Moment warte ich noch (lacht). Der kommt bestimmt. Ich staune aber schon manchmal, wenn ich das Buch in der Hand habe. ||
WORTSPIELE FESTIVAL 9.–11. MÄRZ
Muffatwerk | Zellstr. 4 | tgl. 20 Uhr bis ca. 22.30 Uhr (Einlass 19.30 Uhr) | Tagesticket VVK 12 Euro, AK 15 Euro, Festivalticket VVK 24 Euro, AK 29 Euro | weitere Informationen und Programm
ANNIKA DOMAINKO: UNGEFÄHRE TAGE
C.H. Beck, 2022
222 Seiten | 23 Euro
Weitere Artikel zu aktuellen Buchveröffentlichungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Glitch: Die queerfeministische Buchhandlung in München
Münchner Palais: Die Neuauflage des Architektur-Bildbandes
»Exzentrische 80er« in der Lothringer 13 Halle | MF Online Deluxe
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton