Richard Siegal und sein Ballet of Difference gastieren mit »Body without Organs« in der Muffathalle.

Body without organs

Barock-Revival in Unordnung

body without organs

Das Ballet of Difference in »Body without Organs« von Richard Siegal © Thomas Schermer

Filigrane Netze ziehen sich über die Oberkörper, feine Tüllschichten umhüllen die muskulösen Beine und im Wechsel von Haut(-farben) und Neontönen wirken die Körper der Tänzer*innen des Ballet of Difference fast durchscheinend – also organlos, wie der Titel des Abends »Body without Organs« vermuten lässt? Richard Siegals aktueller Ballettabend, der im Mai 2023 am Schauspiel Köln Premiere hatte und nun Anfang März in der Münchner Muffathalle zu erleben ist, bezieht sich auf die Vorstellung eines organlosen Körpers als Ideal der Freiheit. Vorangegangen ist diesen Überlegungen 2016 seine Produktion »In Medias Res«, die er im Rahmen der Ruhrtriennale schuf. Hier beschäftigte er sich eingehend mit den surrealen Gedankenwelten des Regisseurs Antonin Artaud und dessen Radiokunstwerk »Pour en finir avec le jugement de dieu« (1947; »Schluss mit dem Gottesurteil«). Ein Zitat daraus ist dem Choreografen besonders im Gedächtnis geblieben: »When you will have made him a body without organs, then you will have delivered him from all his automatic reactions and restored him to his true freedom.«

Dieser Utopie, dem (tanzenden) Körper seine Freiheit zu geben, indem dieser von seinen Routinen – seinen automatisierten Reaktionen – befreit wird, geht Richard Siegal in seinem aktuellen Stück nach. Das bedeutet, nicht nur die Grenzen des Ballettkörpers, sondern auch die seiner institutionellen Strukturen auszuloten, demnach eine Dehnung des Verständnisses, was eine Ballettkompanie sein kann. Denn an den meisten Stadt- und Staatstheatern sind die Kompanien nach wie vor streng hierarchisch in Solist*innen und das Corps de ballet gegliedert. Richard Siegals Ballet of Difference, das seit 2019 am Schauspiel Köln ansässig ist, setzt sich hingegen aus einem guten Dutzend Tänzer*innen zusammen, deren Differenz die Basis für seine Stücke bilden. Es gibt keine festen Rollenzuschreibungen mehr, vielmehr werden die Identitäten der Tänzer*innen zu flexiblen Konzepten für die heterogenen Inszenierungen ihrer Ballettkörper auf der Bühne.

Bei »Body without Organs« dienen Siegal diesmal barocke Formen und Musik, um sich der Geschichte des klassischen Tanzes zu nähern, diese kräftig durchzumischen und das Ideal des Ballettkörpers zu entkernen. Denn die Zeit des Barock gilt als Wiege des Bühnentanzes, als Ludwig XIV. mit der Gründung der Académie Royale de Danse die Institutionalisierung des Balletts vorantrieb und eine Kodifizierung und Systematisierung des Ballettkörpers damit erst möglich machte. Diese Ordnungen möchte Richard Siegal mit der Vorstellung eines organlosen Körpers nun verschieben und neu arrangieren. Die barocken Rekurse sind dabei nicht simple Nachahmung, sondern vielmehr ein Durchkreuzen historischer Formen und Muster des Balletts, um so ein wenig Chaos in die jahrhundertealten Traditionen zu bringen, seine formalen Prinzipien zu befragen und das Ungeregelte des Körpers in die choreografischen Strukturen zu integrieren.

Unbeständigkeit bestimmt auch das die akustische Ebene der Aufführung mit sechs Musikstücken Jean-Philippe Rameaus in der Konfrontation mit der elektroakustischen Komposition von Lorenzo Bianchi Hoesch, mit dem Siegal seit langen Jahren zusammenarbeitet. Die Opulenz des Barock spiegelt sich denn bei Siegal auch vor allem im lustvollen Umgang mit den Bewegungen der diversen Tänzer*innenkörper, im Spiel mit Genderfluiditäten und dem Infragestellen von ästhetischen Normen des klassischen Tanzes. Dabei verhandelt er die Identität des Balletts im und am Körper der Tanzenden auf ungewöhnliche Weise. Wie immer wird ein Abend des Ballet of Difference so zu einem Spektakel, das dem Publikum nicht nur einen von Vielfalt geprägten Einblick in die Ballettgeschichte gibt, sondern es einmal mehr in den Sog der multisensorischen Klang-Bewegungs-Bild-Maschine Richard Siegals mit hineinzieht. ||

RICHARD SIEGAL: BODY WITHOUT ORGANS
Muffathalle | Zellstr. 4 | 1./2. März | 20 Uhr | Info und Tickets

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