Kelly Reichardt erkundet in ihrem Film »First Cow« mit viel Witz und Geduld den Gründungsmythos der USA.

»First Cow« von Kelly Reichardt

Kuchen statt Colts

first cow

Zwei Außenseiter im Wilden Westen: Orion Lee und John Magaro in »First Cow« | © Allyson Riggs/A24

Es gibt Filme, auf die man sich so lange freut, dass man sich kaum mehr traut, sie anzuschauen. Doch der Phantomschmerz, der sich in der Zwischenzeit eingestellt hat, ist größer, das Wissen, dass einem bisher ein Ereignis entgangen ist. Ein solcher Film ist »First Cow« der amerikanischen Filmemacherin Kelly Reichardt, der 2020 im Wettbewerb der Berlinale lief – und dann erst mal im pandemiebedingten Filmstau verschwand. Es ist ein unermessliches Glück, dass die Arthouse-Plattform MUBI sich nun seiner angenommen hat und ihn auch in Deutschland herausbringt. Der Wermutstropfen, dass er erst mal nicht im Kino zu sehen sein wird, der ist da. Doch merkwürdigerweise ist »First Cow« dennoch ein Film, der nach langer sozialer Distanz wie eine vorsichtige und wohltuende Rückkehr unter alte Bekannte wirkt.

Das mag daran liegen, dass es darin um das heimelige Gefühl geht, das Freundschaft erzeugen kann, und die gibt es ja auch in unterschiedlichen Aggregatszuständen. Reichardt stellt dem Film eine Zeile aus William Blakes »Sprichwörter der Hölle« voran: »Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft« und macht ihren Western zu einer kleinen zoologischen Studie, wenn man so will. Sie begleitet den sanften Cookie, der in den 1820er Jahren als Koch für eine Gruppe Trapper arbeitet und mit diesen durch den Wilden Westen Oregons zieht. Das raue Leben ist ihm zuwider, er hätte lieber eine eigene Bäckerei.

Beim Pilzesammeln entdeckt er eines Tages einen nackten Mann, der auf der Flucht vor russischen Pelzjägern ist. Er hat einen ihrer Kollegen in Notwehr getötet. Cookie hilft dem Mann, der sich King Lu nennt und aus China stammt. Zum Dank lädt dieser ihn beim nächsten Treffen im nahe gelegenen Handelsposten zum Trinken ein, und die beiden Außenseiter besiegeln ihre Freundschaft – und somit auch nichts weniger als den gemeinsamen Widerstand gegen den amerikanischen Gründungsmythos, den Western so oft transportieren: das Männlichkeitsideal der weißen Westerner, die gewalttätige Verdrängung der indigenen Stämme, die Heldenikonografie der Landübernahme. Denn es sind nicht Heldentaten, die die beiden Männer zum Erfolg führen, sondern eine gewitzte List: Ihnen gelingt es, der einzigen Kuh des Landstrichs Milch abzuzapfen und damit die besten Kuchen weit und breit zu backen. Dass das nicht lange gut gehen kann und der Besitzer der Kuh mit dem beeindruckenden Namen Chief Factor etwas dagegen haben könnte, ist vorprogrammiert. Kelly Reichardts Gespür für leise Komik und ehrliche Emotionen machen dieses Schelmenstück zugleich zu einer einfühlsamen Studie von Freundschaft und zu einer Demontage eingeschliffener Geschichtsschreibung.

So wird »First Cow« auch zu einem Companion-Piece von Jim Jarmuschs Film »Dead Man«, in dem ein Indigener einem zum Mörder gewordenen Sekretär auf der Flucht vor dem Sheriff hilft. Dass dieser Sekretär William Blake heißt und im Fiebertraum psychedelische Sprichwörter aus der Feder seines Namensvetters faselt, ist nur eine der offensichtlichen Verbindungen zu Kelly Reichardts Freundesduo. Weniger lakonisch und schicksalsergeben, sondern optimistisch und offen für die Freundschaft, die hier entsteht, glaubt »First Cow« an das Ankommen in sich selbst und die beflügelnde Durchschlagskraft von Solidarität. ||

FIRST COW
USA 2020 | Drehbuch: Kelly Reichardt und Jonathan Raymond nach dessen Roman »The Half-Life« | Regie: Kelly Reichardt
Mit: John Magaro, Orion Lee, Alia Shawkat
122 Minuten | bei MUBI

Weitere Filmkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: