Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro erzählt seinen Roman »Klara und die Sonne« aus der Perspektive eines Androiden.

Kazuo Ishiguro »Klara und die Sonne«

Ist die Maschine der bessere Mensch

kazuo ishiguro

Der Mensch braucht zu seiner Selbstvergewisserung den Blick des anderen. Die Familie nimmt darin eine ebenso wichtige Rolle ein wie die Gesellschaft. Doch die Literatur kennt auch die nicht menschlichen Blicke, Tiere etwa, in denen sich die Protagonisten zu finden versuchen. Und immer wieder sind es auch die Augen von künstlichen Menschen.

In dem Phantasma schwingt sich der Mensch zum Schöpfer auf. Träumte die Aufklärung noch von der Maschine Mensch, wendet sich seit der Romantik so gut wie jeder humanoide Automat irgendwann gegen seinen Erzeuger. Die Science-Fiction-Literatur lebt davon, dass sie sich Szenarien ausmalt, in denen Maschinen den Menschen unterjochen. Die Fortschritte, die auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz gemacht werden, lassen die apokalyptischen Bilder näher rücken und greller werden. Der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat mit »Klara und die Sonne« einen leisen Sci-Fi-Roman geschrieben und die Erwartungshaltung, die an das Genre gestellt wird, ins Leere laufen lassen. Teile der Literaturkritik reagierten irritiert.

Ishiguro deutet das Grauen, das sich über sein Amerika einer nicht allzu fernen Zukunft gelegt hat, so subtil an, dass man es glatt überlesen kann. Seine akribische Schilderung eines vordergründig ganz normalen Alltags lässt vergessen, dass es sich um eine winterkalte Gesellschaft handelt, in der Roboter weitgehend die Arbeit übernommen haben und Kinder mittels Genmanipulation auf die Ebene einer neuen Elite »gehoben« werden. Der Rest gilt als minderwertig. Dass in dieser diktatorische Züge tragenden Zweiklassengesellschaft die Umweltbelastung enorm ist, nimmt man als selbstverständlich hin. Ein einziger Satz, den man als Kommentar Ishiguros in Richtung der »Fridays for Future«-Generation lesen kann, verrät, dass es nicht so sein sollte. Da sagt der Vater der »gehobenen« Josie über Rick, den besten Freund des kleinen Mädchens: »Ich hoffe sehr, er findet seinen Weg durch das Schlamassel, das wir seiner Generation hinterlassen.«

Der Grund, warum man Ishiguros jüngstes Buch als harmlos unterschätzen kann, liegt nicht nur an der Beiläufigkeit, mit der die Abgründe zur Sprache kommen. Sondern auch an der Erzählinstanz, die der britisch-japanische Autor gewählt hat. Als hätte er sich die Aufgabe gestellt, noch einmal den Blick eines Kindes einzunehmen, ohne ein Kinderbuch zu schreiben, lässt er die Geschichte von der solarbetriebenen Androidin Klara erzählen. Klara ist eine KI, die hier KF heißen, »Künstlicher Freund«. Kinder bekommen so einen KF, damit sie sich nicht einsam fühlen. Heutige KI-Forscher unterscheiden zwischen schwacher und starker KI. Schwache KIs sind schon jetzt im Einsatz. Starke KIs sind noch Zukunftsmusik, was Ängste schürt, ob Maschinen bald smarter sein werden als wir.

Klara ist eine starke KI, steckt aber noch in den Kinderschuhen. Sie lernt durch genaue Beobachtung und Imitation, ihr Entwicklungsstand entspricht dem eines heranwachsenden Kindes. Das heißt aber auch: Sie erzählt die Geschichte von Josie und sich in einer einfachen Sprache. Auch ihre Verehrung für die lebensspendende Sonne ist getragen von kindlicher Naivität. Für Komplexität sorgen die Gespräche der Erwachsenen, die sie wiedergibt. Diese haben es in sich, denn sie offenbaren den wahren Grund, warum Josie Klara bekommen hat. Das Mädchen ist krank, eine Folge des Gen-Eingriffs, der schon ihre Schwester das Leben gekostet hat. Falls auch Josie stirbt, hofft ihre Mutter, dass Klara sie ersetzt. Deshalb lässt sie von dem Forscher Capaldi eine Hülle anfertigen, die dem Äußeren Josies exakt nachgebildet ist und in die Klara nur noch zu schlüpfen bräuchte. Ishiguro verhandelt so den Wunsch nach Unsterblichkeit, der heute u.a. von Transhumanisten geträumt wird. »Obwohl er gesucht und gesucht habe«, heißt es über Capaldi, habe er »nichts Besonderes in Josies Innerem« gefunden, »das sich nicht fortsetzen ließe«.

Das Furchteinflößende geht hier nicht von den Maschinen aus, sondern von uns. Was den Menschen zum Menschen macht, ist das eigentliche Thema Ishiguros. Umso markerschütternder ist die Frage, die Josies Vater Klara stellt: »Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn.« Ausgerechnet eine Maschine soll sagen, wer wir sind. So als hätten wir es längst vergessen. Mitgefühl und Emotion zeigen in diesem intelligenten Roman die Kinder. Allen voran das hellsichtige Maschinenkind Klara. ||

KAZUO ISHIGURO: KLARA UND DIE SONNE
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Blessing Verlag, 2021
352 Seiten | 24 Euro

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