Katja Wildermuth ist seit Februar die neue Intendantin des BR. Wir sprachen mit ihr darüber, wie es mit der Kultur im Bayerischen Rundfunk weitergeht.

Katja Wildermuth im Interview:

»Kultur ist wichtig – gerade in einer Zeit, in der sie schmerzhaft fehlt«

wildermuth

Katja Wildermuth © BR Markus Konvalin

Katja Wildermuth ist in Anzing aufgewachsen, an der LMU hat sie studiert und später dort auch Geschichte unterrichtet. Später arbeitete sie für den Oldenbourg­-Verlag und machte in der ARD Karriere. Nach Stationen als NDR­-Kulturchefin und MDR-­Programmdirektorin lenkt Wildermuth seit 1. Februar als erste BR-­Intendantin die Geschicke des Senderriesen, der eben erst Sir Simon Rattle als neuen Dirigenten für das BR-Symphonieorchester unter Vertrag nahm. In der Kulturwelt – hier in der Stadt und weit darüber hinaus – werden die Pläne der vielfältig interessierten, meinungsstarken und sendungsbewussten Ulrich-­Wilhelm­-Nachfolgerin großes Gewicht bekommen. Wir haben sie zu ihren Kulturvorhaben, die für Wildermuth Herzensangelegenheiten sind, befragt.

Frau Wildermuth, der Bayerische Rundfunk befindet sich noch immer in einem der größten Umbauprojekte hin zur viel beschworenen Trimedialität, die ARD steckt mal wieder in einer großen Rechtfertigungs- und Beitragsgelddiskussion, und dann kam auch noch Corona dazu: Da hätten Sie sich ja auch einen etwas einfacheren Zeitpunkt für einen Amtsantritt denken können?
Man kann sich immer alles einfacher vorstellen. Aber es ist für mich natürlich auch eine sehr spannende Phase.

Inwiefern?
Aktuell werden Weichen für unsere Zukunft gestellt. Da liegt man genau richtig, wenn man Spaß an der strategischen Diskussion hat und zuversichtlich ist: Beides trifft auf mich zu – vor allem mit Blick auf das, was der BR in den vergangenen Monaten unter diesen Bedingungen geschafft hat. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, so ein Amt anzutreten. Nach einem Durchweißeln im Intendanzbüro dürfte die Farbe ja noch nicht ganz trocken sein.

Wie schnell konnten Sie sich denn einen Überblick verschaffen, damit Sie nun genau wissen, wo Sie unbedingt als Erstes eingreifen müssen?
Es ist schon so, dass jede Landesrundfunkanstalt in der ARD ihre ganz eigene Geschichte und ihre Eigenarten hat. Wir sind aber trotzdem eine Familie. Die Erfahrungen, die ich vom Mitteldeutschen und Norddeutschen Rundfunk mitbringe, helfen mir hier ebenso wie meine Erfahrungen aus den letzten Jahren mit dem BR als Partner. Der BR ist für mich keine Terra incognita.

Das war wohl auch nicht anders zu erwarten.
Manches ist mir vertraut, anderes eher BR­-spezifisch. Mir geht es wie allen anderen Kolleginnen und Kollegen – und auch weiten Teilen der Bevölkerung: Die Tatsache, dass es derzeit wenig Dienstreisen gibt, heißt auch, dass man viel im Haus kommuniziert. Natürlich nicht in der Form, wie ich es gerne gemacht hätte – mit großen Runden. Sondern eher digital oder bilateral. Ich bin jeden Tag vor Ort und nicht viel unterwegs. So kann ich ziemlich schnell ziemlich tief in die verschiedenen Herausforderungen eintauchen.

Frau Wildermuth, wie haben Sie die Projekte, die Sie nun angehen wollen, vorstrukturiert: Was liegt denn ganz oben auf Ihrem Schreibtisch?
Ganz oben liegt eine Butterbrezn. Mich mit der zu beschäftigen, habe ich heute noch gar nicht geschafft. Außerdem habe ich hier ein paar Weintrauben – und natürlich viel Post. Aber im Ernst: Was mich sehr beschäftigt, ist die Diskussion über die nun erst einmal ausgebremste Erhöhung des Rundfunkbeitrags und die dadurch wieder angefachte Akzeptanzdebatte.

Das ganz heiße Eisen.
Das ist schon ein wichtiges Thema. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unser oberstes Ziel sein muss, die Menschen quer durch Bayern und – das ist immer leichter gesagt als getan – quer durch alle Altersgruppen, Regionen, Lebenswirklichkeiten und Einstellungen so zu erreichen, dass diese Leute sagen: Es ist gut, dass es den Bayerischen Rundfunk gibt.

Viel Überzeugungsarbeit.
Damit haben wir eine große Aufgabe vor uns. Mit Blick darauf, was wir in den vergangenen Monaten geleistet haben – ich denke da vor allem an die journalistische Berichterstattung, aber auch an Zusatzangebote wie etwa die digitale BR KulturBühne – können wir der Akzeptanzdebatte mit Stärke und Selbstbewusstsein entgegensehen. Denn die Menschen drau­ ßen wertschätzen uns als verlässlichen Anbieter von unabhängigem Qualitätsjournalismus. Die Umfragewerte sind derzeit so hoch wie nie. Das bestärkt uns. Gleichzeitig können wir uns darauf natürlich nicht ausruhen.

Vor allem nicht, weil ja vor allem in den sozialen Medien ein scharfer Wind gegen die Öffentlich-Rechtlichen bläst.
Wir merken, dass es Debatten gibt – in den jüngsten Wochen vielleicht noch etwas intensiver geführt als sonst –, die die Gesamtgesellschaft strapazieren. Diese droht, in immer mehr Teilöffentlichkeiten zu zerfallen. Mir macht das große Sorgen. Wir versuchen da, so gut es geht, entgegenzuwirken – einerseits durch die Inhalte, die wir anbieten. Anderseits dadurch, dass wir versuchen, die Medienmündigkeit in der Gesellschaft zu stärken. Wir müssen den Leuten vermitteln, wie wir mit brisanten Themen umgehen, was gute Quellenarbeit ist und wie journalistische Standards aussehen.

Wie meinen Sie das konkret?
Das Ziel ist doch, dass die Leute ihre Smartphones nicht nur bedienen, sondern die Inhalte darauf auch beurteilen können. Also etwa Fake News erkennen oder seriöse von unseriösen Inhalten unterscheiden können. Dieses Handwerkszeug zu vermitteln, gehört zu unseren wichtigen Aufgaben. Wir brauchen in der Gesellschaft einen verlässlichen Grundstock an allgemein als wahr akzeptierten Fakten. Erst auf der Basis können wir vernünftig diskutieren – und dann auch unterschiedlicher Meinung sein. Denn wenn das verlässliche Fundament erodiert, ist der demokratische Diskurs in Gefahr und es wird für den öffentlich­rechtlichen Rundfunk schwierig, genauso wie für die Politik und andere öffentliche Einrichtungen.

Ist die Lage aber nicht extrem widersprüchlich? Coronabedingt erhalten aktuelle Informationen sowie Ablenkung und Unterhaltung im Fernsehen, aber auch über die anderen Kanäle wie Radio und Online, die Sie im Haus haben, starken Rückenwind. Gleichzeitig steht der öffentliche Rundfunk enorm im Feuer, wenn’s ums Geld geht.
Es sind am Ende zwei unterschiedliche Währungen, über die wir sprechen. Das eine ist die Frage des monatlichen Rundfunkbeitrags. Den vergleichen Kritiker natürlich gern mit dem Geld, das man etwa für einen Streaminganbieter im Monat bezahlt. Der andere Diskurs läuft auf einer anderen Ebene und ist für mich der viel wichtigere, weil er langfristig bedeutsam ist: Dabei geht es um die Frage, welche Rolle unabhängiger Qualitätsjournalismus für unseren demokratischen Diskurs spielt. Der Begriff stammt nicht von mir, ich würde ihn aber sofort unterschreiben: Für mich ist der Rundfunkbeitrag eine Demokratieabgabe!

Wie muss man das verstehen?
Für mich geht es darum, dass wir uns als Gesellschaft diesen finanziell unabhängigen, nicht von Algorithmen oder anderen reinen Aufmerksamkeitsmechanismen getriebenen Journalismus leisten wollen. Weil er eben die Basis ist für eine qualifizierte Debatte und für die Partizipation an demokratischen Prozessen im Land. Ich halte die Frage, was wir tun müssen, damit unsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt – Stichwort: USA, Stichwort: Ungarn – für substantiell und nachhaltig.

Aktuell befinden Sie sich mit den Kollegen der anderen Anstalten ja in einer Schwebephase, bis gerichtlich geklärt ist, wie es wirklich weitergehen wird mit der geplanten Erhöhung der Rundfunkabgabe. Bis das geklärt ist, müssen Sie ja jetzt trotzdem schon konkrete Richtungsentscheidungen fällen. Gespart werden musste ja bislang schon beim BR. Wie sehr geht in den Redaktionen nun die Angst um, dass es Streichlisten für Programme, aber auch beim Personal gibt?
Zunächst: Kurzfristige Programmkürzungen wird es beim BR in diesem Jahr nicht geben. Aber natürlich führen wir strategische Debatten über unsere zukunftsfesten Stärken. Also: Welche Inhalte wollen wir in die Zukunft führen und was nicht. Diese Diskussion, wo künftig gestärkt oder auch gespart werden wird, möchte ich aber konstruktiv und positiv führen, nicht geprägt von Angst. Und außerdem haben Sie vollkommen recht: Wir sparen schon längst! 2009 wurden die Etats der Direktionen eingefroren und seitdem auch schrittweise abgeschmolzen. Wir haben beim BR beschlossen, bis 2025 im Bereich der Fernsehproduktion 450 Stellen einzusparen. Es gibt auf ARD-­Ebene seit fünf Jahren große Strukturprozesse, die es wirklich in sich haben – auch wenn man ihnen das auf den ersten Blick gar nicht so ansieht.

Können Sie das genauer erklären?
Nehmen Sie zum Beispiel das Strukturprojekt der SAP­-Prozessharmonisierung. Da geht es darum, dass alles – vom internen Controlling über die Abrechnung von Reisekosten und Großinvestitionen – ARD-­weit auf ein Workflow-­System gebracht und damit kompatibel gemacht werden soll. Wer sich einmal mit SAP beschäftigt hat, weiß, dass diese Anpassung ins Mark großer Organisationen geht. Das wird enorme Einsparungen bringen – in Höhe von rund 588 Millionen Euro. Das läuft alles schon. Und auch beim BR gibt es wie gesagt ein laufendes Sparprogramm.

Frau Wildermuth, Nun sieht es aber zunächst so aus, als ob Sie nicht wie geplant mehr Geld von den Gebührenzahlern erhalten werden.
Wenn wir – Status quo – nun nur 17,50 Euro bekommen und nicht den von der KEF, der unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Anstalten, empfohlenen Beitrag in Höhe von 18,36 Euro erhalten, dann müssten wir im laufenden Jahr 2021 noch einmal rund 31,5 Millionen Euro beim BR sparen. Trotzdem habe ich gesagt – und das aus tiefer Überzeugung: Wir nehmen jetzt keine vorschnellen Kürzungen vor! Es handelt sich um ein anhängiges Verfahren beim Bundesverfassungsgericht. Ich hoffe, dass dort möglichst zeitnah entschieden wird.

Wenn’s um Geld und Sparzwänge geht, kommt das Gespräch oft gleich mit als Erstes auf die sogenannten Klangkörper der ARD-Anstalten, also in Ihrem Haus etwas das BR-Symphonieorchester. Wie sehr fürchten Sie neue Begehrlichkeiten, bei der Kultur einzusparen, zu schließen, zu verschieben oder beschlossene Kulturpläne etwa beim Konzertsaalbau in München vom Tisch zu wischen?
Unsere drei Klangkörper gehören zu den Aushängeschildern des Bayerischen Rundfunks. Wir können wirklich stolz darauf sein, sie zu haben, weil sie nicht nur großartige Kulturbotschafter sind, sondern auch gesellschaftliche Funktionen erfüllen. Das Rundfunkorchester ist mit seinem breiten Repertoire im Education­Bereich sehr engagiert, der Chor fördert auch Laienchöre und junge Dirigenten. Und natürlich unser Symphonieorchester, das von Fachleuten regelmäßig als eines der besten der Welt gelobt wird.

Zweifellos.
Es trägt auch den Ruf des Bayerischen Rundfunks in die Welt. Der gute Ruf des Symphonieorchesters führt auch dazu, dass wir einen so renommierten Chefdirigenten wie Simon Rattle verpflichten konnten. Er kommt ja wegen der Qualität des Orchesters und weil er dessen Mission mittragen möchte: Es geht um das breite Repertoire, aber auch um die EducationAufgaben des Orchesters. Rattle will auch in die Gesellschaft hineinwirken, er engagiert sich stark für Nachwuchskünstlerinnen und ­künstler oder führt Mitmachkonzerte durch.

Wie soll es denn mit dem Orchesterprogramm unter aktuell so erschwerten Bedingungen weitergehen?
Wir haben mit den Klangkörpern in der verbleibenden 2021er Spielzeit natürlich andere Dinge vor, als wir sie ohne Pandemie geplant hätten. Aber zum Beispiel beim Symphonieorchester werden weiterhin nahezu im Wochenrhythmus namhafte Gastdirigenten kommen, deren Konzerte allesamt live im Radio und teils auch im Videostream übertragen werden. Besonders gespannt bin ich zum Beispiel auf das Debüt von Christian Thielemann, das für den 16. April geplant ist.

Und wie geht’s aus Ihrer Sicht mit dem Konzertsaal auf dem Werksgelände weiter?
Es gibt ja ein klares Bekenntnis des Freistaats zum Konzertsaal. Da geht aus meiner Sicht derzeit alles den geregelten Lauf. Aber man muss vielleicht noch mal klar sagen: Der BR ist nicht der Bauherr.

Trotzdem betreffen alle Schritte dort auch Ihr Haus sehr konkret.
Natürlich. Wir können dem neuen Haus, wenn es dann fertig ist, unser Spitzenorchester und den neuen Spitzendirigenten mit all den kreativen Kräften, die wir entfalten können, zur Verfügung stellen. So wie das Konzerthaus angelegt ist, wird das ein sehr visionäres Gebäude. Dass es dort in einem so lebendigen, vielfältigen Szeneumfeld platziert ist, einem jungen, sehr kreativen München, gefällt mir sehr gut. Vor Ort wird es viele Möglichkeiten zur gegenseitigen künstlerischen Befruchtung geben. Ein großer Wurf. Und auch eine große Chance!

Sir Rattle wird ja nicht nur mit dem Weltklasseorchester, sondern auch mit dem Bau eines neuen Münchner Konzerthauses eng in Verbindung gebracht. Sieht sein Vertrag nicht vor, dass er Ihnen wieder davonlaufen darf, wenn nicht endlich mal ein erster Spatenstich erfolgt?
Ganz eindeutig: Nein!

Beruhigend.
Warum ist denn die Verpflichtung von Simon Rattle so wegweisend? Einerseits natürlich, weil er einer der Spitzendirigenten der Welt ist und sehr gut zu unserem Orchester passt. Wie ich finde, passt er auch sehr gut zum Bayerischen Rundfunk und in diese Stadt. Andererseits weil er breit interessiert ist. Einer, der mit den Graffitikünstlern, die er auf der Straße trifft, genauso ins Gespräch kommt wie mit den Skateboardern im Werksviertel. Er hat sich die Offenheit immer schon zum Motto gemacht: Er will die klassische Musik öffnen und auch mit Laien arbeiten. Und er möchte sich in der Kulturvermittlung einbringen. Das kreative Zusammenspiel von unserem Symphonieorchester, Rattle und Werksviertel ist eine riesige Chance.

Das übliche Kulturerleben mit Theater-, Konzert-, Museumsoder Kabarettbesuchen ist für viele Münchner zuletzt ja fast ganz zum Erliegen gekommen. Kann man in solchen Zeiten als BR durch Kulturaktionen sowie spontan geöffnete Türen für Künstler ohne echte Auftrittsorte wichtige zusätzliche Sympathiepunkte sammeln?
Unbedingt! Unser Engagement ist gerade jetzt sehr wichtig. Unsere digitale BR KulturBühne, die wir zu Beginn der Corona-Krise vor einem Jahr neu gestartet haben, hat ja mehrere Funktionen. Zum einen geht es um das, was wir selbst veranstalten können. Dazu zählen die hochwertigen Konzerte und Streams beispielsweise unserer Klangkörper, die wir unter Pandemiebedingungen ohne Publikum einer breiteren Zuschauer­ und Zuhörerschaft zugänglich machen. Wir spüren an den Klickzahlen und an den vielen Rückmeldungen, wie groß der Bedarf daran ist. Die Gesellschaft merkt, wie wichtig Kultur ist – gerade in einer Zeit, in der sie schmerzhaft fehlt.

Wie offen sind Sie für externe Kooperationen?
Das ist die zweite große Aufgabe, die die BR KulturBühne erfüllt – der Kulturszene digitale Auftrittsmöglichkeiten und damit öffentliche Präsenz zu bieten. Wir arbeiten eng mit zahlreichen bayerischen Bühnen zusammen und streamen deren Aufführungen. Auch vieles andere, wie etwa Lesungen mit Schauspielerinnen und Schauspielern, bieten wir an. Dabei waren nicht nur namhafte Künstlerinnen wie Eva Mattes, Doris Dörrie oder Cornelia Funke auf der KulturBühne zu Gast. Wir vergeben auch Aufträge, um Selbstständige zu unterstützen und einen Beitrag zu leisten, die Szene am Leben zu erhalten.

Sie können ja selbst auf eine langjährige Beschäftigung mit Kulturinhalten in Ihrer ARD-Historie zurückblicken: Haben es die Kulturredaktionen und die Kunstinteressierten in Ihrem Haus deshalb im Moment leichter, schnell einen Termin bei Ihnen zu bekommen?
Nach meinem Verständnis bin ich als Intendantin dafür da, für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen, nach innen und außen zu kommunizieren und eine gemeinsame Strategie für unser Haus zu entwickeln. Ich bin nicht dafür da, bei einzelnen Programmen zu sagen: Das machen wir oder das machen wir nicht. Dafür habe ich wunderbare Programmmacherinnen und ­macher und auch zwei sehr gute Programmdirektoren.

Schon klar. Aber wie könnten sich die Akzente behutsam verschieben?
Wir alle merken doch, was uns fehlt und dass das Leben aus mehr besteht als nur aus Infektionszahlen und Impfstoffzusammensetzungen. In diesen Zeiten – gerade auch in einer Phase, in der über den Stellenwert und Auftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks diskutiert wird – gibt es zum Glück wieder eine neue Sensibilität für hochqualitative, auch kulturelle Inhalte. Es ist eine Zeit, in der sich erhöhtes Augenmerk auf die Kultur richtet – unabhängig davon, wer gerade beim BR Intendantin oder Intendant ist.

Ursprünglich hatte sich der BR unter Ihrem Vorgänger Ulrich Wilhelm ja ARD-intern quergelegt, als es um die Pläne ging, die Kultur zentral zu bündeln – angedockt beim MDR, von dem Sie ja kommen. Kommt da nun neuer Wind in die Diskussion oder verteidigen Sie nun unter Ihrer Führung den BR mit Zähnen und Klauen?
Im Moment stellt sich die Frage nicht, denn das Projekt ist an die Beitragsanpassung gekoppelt. Erst wenn dazu eine Entscheidung gefallen ist, werden wir uns das Thema wieder vornehmen können. Was man unabhängig davon nicht vergessen darf: Der BR ist auch jetzt schon sehr aktiv, was einen Beitrag zum ARD-­Kulturangebot angeht, und koordiniert sogar federführend die Kulturthemen innerhalb der ARD. Außerdem sind
wir traditionell stark im Bereich Serie. Da muss man aktuell nur an »Hindafing«, »Servus Baby« oder »Oktoberfest 1900« denken. Das alles sind Angebote nicht nur fürs lineare Programm, sondern auch für die ARD­Mediathek. Auch darüber hinaus ist der BR ein starker Filmlieferant für die ARD – von Krimis und Komödien bis hin zu anspruchsvollen Mittwochsfilmen. Kurzum: Unser Kultur­Engagement für die ARD ist wirklich groß, und das wird sich auch nicht ändern. Schließlich hat Bayern in diesem Bereich viel zu bieten.

Wenn Sie aber vielleicht auch noch mal aus Ihrer früheren MDR-Sicht mit auf die Frage blicken: Welchen Sinn und welchen Charme hätte denn eine solche zentrale Kulturbündelung innerhalb der ARD ergeben? Was hätten die Zuschauer davon gehabt – mehr anstaltsübergreifende Kooperationen, »Tatorte« mit Kommissaren aus verschiedenen Sendegebieten?
(lacht) Ich glaube, an »Tatorten« und an Kommissaren mangelt es uns ja nicht wirklich bei der ARD. Für mich ist der »Tatort« ein tolles Beispiel, wie die ARD ihre föderalen Stärken ausspielen kann. Weil wir es eben schaffen, so viel lokales Kolorit über die Themen, die Figuren und die Erzählweisen in die Filme zu transportieren. So schaffen wir eine überragende bundesweite Relevanz für eigentlich regionale Geschichten.

Jetzt haben Sie aber immer noch nicht erzählt, warum eine zentrale Kulturstelle, gegen die sich der BR bislang ausgesprochen hatte, vielleicht doch ganz gut gewesen wäre.
Wir stehen vor der Frage, wie wir als ARD im föderalen Verbund immer besser zusammenarbeiten, die regionale Vielfalt optimal sichtbar machen können. Für das Digitale haben die Intendantinnen und Intendanten der ARD schon vor eineinhalb Jahren entschieden, dass wir dort intensiver kooperieren müssen. Auf diesem Gebiet müssen wir gegen die großen US­amerikanischen Player bestehen. Deswegen haben die Intendanten eine sogenannte Big-­Five-­Strategie auf den Weg gebracht.

Was muss man darunter verstehen?
Wir konzentrieren uns im Digitalen gemeinsam auf fünf wichtige Bereiche – auf Tagesschau.de, auf Sportschau.de, auf den Kinderkanal KiKa sowie auf die ARD-­Audiothek und die ARD-­Mediathek. Die Idee ist, dass ich als User, wenn ich mich beispielsweise für Naturfilme interessiere, diese an einer zentralen Stelle schnell finde – egal von welcher Rundfunkanstalt sie kommen.

Und so soll das auch bei Kulturthemen funktionieren?
Die Idee bei der gemeinsamen Kulturplattform ist: Wie können wir aus Nutzersicht all die Dinge, die in unserem ARD­Verbund regional entstehen und auch in Zukunft weiter so entstehen können, künftig noch besser bündeln? Wir wollen die Angebote für übergeordnete Themen – etwa für Literatur, für Kino oder Musik – noch zentraler sammeln, sodass der Nutzer auf einen Blick das gesamte ARD-­Angebot in diesem
Bereich überblickt. Ein Zwischenschritt ist schon jetzt erreicht.

Welcher?
Wie Sie vielleicht gesehen haben, kuratieren wir die ARD-Mediathek jetzt schon viel dezidierter als früher. Wir bündeln stärker – damit man sich als Nutzer oder Nutzerin nicht in der Angebotsfülle verloren fühlt. So wird etwa alles, was für die Schule daheim wichtig ist, oder alles, was Religion betrifft, übersichtlich an einem Ort auffindbar. Den Plan, dass wir im Internet noch stärker gemeinsam agieren, werden wir so oder so weiterverfolgen.

Letzte Frage noch – und die lässt sich ja sicher ganz schnell beantworten: In der Schublade von Ulrich Wilhelm müssen doch noch die Unterlagen für das Großprojekt einer europäischen Lösung im Internet – mit einer übergreifenden Mediatheken-Allianz als Gegengewicht zu den Googles und Facebooks dieser Welt – gelegen haben. Diese Pläne werden Sie jetzt dann einfach schnell umsetzen, oder?
(lacht) Da wüssten Sie mehr als ich. Die Diskussion, die Ulrich Wilhelm angestoßen hat, ist eine Diskussion, die zu Recht auf aktuelle Schwachstellen im Social-­Media-­Bereich hingewiesen hat. Es geht um Schwachstellen, die wir uns in der ersten Euphorie darüber, dass wir nun alle in die sozialen Medien gehen und uns dort mit ganz vielen anderen Menschen vernetzen, vielleicht nicht gleich bewusst gemacht haben. Es steckt eben eine große Gefahr darin, wenn unsere gesamte Kommunikation über Plattformen läuft, die in erster Linie ein ökonomisches Interesse verfolgen. Dies führt dazu, dass die Plattformen Algorithmen einsetzen, die Emotionen und Extreme belohnen, um Aufmerksamkeit zu generieren, eine möglichst lange Verweildauer zu erreichen und Daten abzugreifen. Viele Menschen wissen das, nutzen die sozialen Plattformen aber doch – vielleicht mit ein bisschen schlechtem Gewissen, aber ohne letztlich genau zu wissen, wie viel mehr sie von sich selbst preisgeben.

Was also tun?
Ich denke, vieles spricht für die grundsätzliche Idee eines geschützten Raumes und beispielsweise einer nicht ökonomisch getriebenen Suchmaschine. Was mir aber mindestens genauso wichtig ist: Wir brauchen nicht nur bei den jungen Menschen, sondern quer durch die Gesellschaft eine ausgeprägte Medienkompetenz. Ich muss einschätzen können, woher mein Newsfeed kommt und warum ich diese und jene Information ausgespielt bekomme. Nur so kann ich mich in geschützten und weniger gut geschützten Räumen aufrecht und kompetent bewegen. ||

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