Das Werk 12 im Werksviertel: Deutschlands bester Bau 2021 steht in München.

Werk 12: WOW!

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Ein ganz besonderer Sonderbau: das Werk 12 der Architekten MVRDV und N-V-O wurde 2021 mit dem Preis des Deutschen Architekturmuseums ausgezeichnet | © Ossip van Duivenbode

Mit dem DAM Preis für Architektur in Deutschland werden seit 2007 jährlich herausragende Bauten in der Bundesrepublik ausgezeichnet. 100 Gebäude oder Ensembles werden jedes Jahr nominiert und daraus von einer Jury eine Shortlist und dann eine Finalistenrunde ausgewählt. Unter den Finalkandidaten der besten Bauten war 2017 das Sperrengeschoß unter dem Marienplatz von Allmann Sattler Wappner Architekten vertreten. Und 2018 wurde die Wohnanlage wagnisART im Domagkpark von bogevischs buero und SHAG – Udo Schindler und Walter Hable zum Preisträger gekürt.

Dieses Jahr wurde das Werk 12 der Architekten MVRDV und N-V-O mit dem Preis des Deutschen Architekturmuseums DAM ausgezeichnet. Im Gegensatz zu den typischen Aufgabenstellungen der anderen hundert Bewerber aus ganz Deutschland ist es ein Sonderbau an dem ganz besonderen Standort Werksviertel Mitte. Das radikale Konzept für ein Gebäude in einem der derzeit aufregendsten Umfelder zeigt, wie viel Freiheit im Denken und Bauen auch heute noch möglich ist. Was können Architekten, Politiker und Bauherren von solch einem Exoten für die sonst kostenoptimierte Schwarzbrot-Architektur im real existierenden München lernen?

Website des Werksviertels

Der rohe Betonbau ist ganz im industriellen Duktus der Nachbargebäude gehalten und könnte leicht für den respektvollen Umbau eines ehemaligen Industriegebäudes auf dem ehemaligen Pfanni-Areal gehalten werden. »Das Werk 12 ist kein gewöhnliches Gebäude mit einem vorgegebenen Raumprogramm. Es steht an einer städtebaulich prominenten Stelle im Werksviertel Mitte und soll in erster Linie den Geist dieses neuen Quartiers ausdrücken und ihn mit einem Mix unterschiedlicher, übereinandergeschichteter Nutzungen noch offener, lebendiger und urbaner machen«, erläutert Christoph von Oefele vom Münchner Architekturbüro N-V-O das Projekt. Ein derartiges Gebäude gibt es bereits, nur nicht in München: Es ist der niederländische Pavillon auf der EXPO 2000 in Hannover, seinerzeit das beliebteste Bauwerk der gesamten Weltausstellung. Die erhaltene Grundstruktur wurde 2013 dem Eigentümer von Werksviertel Mitte, der OTEC, zum Verkauf angeboten. Die Demontage, der Transport nach München und eine bauphysikalische Ertüchtigung wären jedoch unwirtschaftlich gewesen. Deshalb beauftragte Bauherr Werner Eckart die Architekten des Pavillons, das Büro MVRDV aus Rotterdam, mit dem Konzept für einen Neubau. 2015 stießen N-V-O dazu, die durch den Umbau der benachbarten Kartoffelhalle zum Werk 7 mit den Verhältnissen vor Ort bestens vertraut waren.

AAHHH, OH, PUH, HMPF, HIHI

Wie Sprechblasen in Comics prangen die Buchstaben an den rundum kühn auskragenden Laubengängen der komplett verglasten Fassaden. »In ihre frühen Entwurfszeichnungen der Gebäudeschnitte haben MVRDV mögliche Nutzungen mit Großbuchstaben eingetragen«, so Oefele. »Das hat uns so gut gefallen, dass wir die Buchstaben als Teil der Fassade bauen wollten.« Damit das Raumprogramm sich im Laufe der Jahre ändern kann, musste inhaltlich eine neutrale Bedeutung der Buchstaben gefunden werden, die dennoch emotionale Ausstrahlungskraft besitzt. Den Wettbewerb konnten schließlich die Münchner Künstler Beate Engel und Christian Engelmann für sich entscheiden. Die Buchstaben machen den außen liegenden Erschließungsbereich der umlaufenden Balkone auch räumlich vielfältiger, indem sie den sonst offenen Ausblick punktuell filtern und geschützte Bereiche bilden. Bei Bedarf lässt sich die gesamte Hülle schließen: Die Sonnenschutzmarkisen sind ganz außen unter den Betonplatten montiert, sodass bei herabgelassener Stellung die Balkone als Teil des Innenraums empfunden werden.

105 Baubesprechungen waren erforderlich, um die planungsrelevanten Punkte mit allen Beteiligten abzustimmen, über 30 Besprechungen für die Buchstaben an den Fassaden. Das Gebäude bringt für den Architekten noch immer neue Erkenntnisse: »Lange Zeit dachte ich, die Buchstaben machen keinen Sinn. Als ich eines Abends nach endlosen Baubesprechungen am Werk 12 hochschaute, kam die Erleuchtung mal in Rosé, mal in Blau: PUH, was für ein Tag!«

Flexibel mit Schwimmbad und Gin-Bar

Der Aufzugskern liegt nicht wie gewöhnlich in der Mitte des Gebäudes, sondern an den Vorderkanten der Balkonplatten der Nordfassade. Das Fluchttreppenhaus wickelt sich wie eine Banderole als lange Kaskadentreppe einmal um den gesamten Kubus und steift ihn wie ein diagonaler Träger gegen Windlasten aus. Das Innere des Gebäudes ist also auf 7700 Quadratmetern komplett frei. Frei für was? »Wir begannen mit der Werkplanung, ohne zu wissen, welche Mieter später einziehen würden. Bei Mixed-Use-Gebäuden ist das normalerweise kein Problem, da gehört Flexibilität zum Geschäft. Aber als der Fitnessclub als potenzieller Mieter die Forderung nach einem 25 Meter langen und 8 Meter breiten Sportschwimmbecken im dritten Obergeschoss stellte, kamen wir doch ins Schwitzen, ob die filigrane Konstruktion das verkraften kann«, erinnert sich Oefele. Von Oktober 2019 bis zum letzten Lockdown war der dreigeschossige Fitnessbereich mit Schwimmbad, Frischluftbalkon und Aussicht über die Stadt eine Hauptattraktion im Areal und mit Tageskarte für jedermann zugänglich. Im Erdgeschoss lockte die Bar GinCity Liebhaber von Gingetränken an. Momentan ist nur die Südseite des fünften Obergeschosses in Betrieb. Hier hat Audi Business Innovation sein Quartier mit exklusiven Büros aufgeschlagen – Alpenpanorama inklusive.

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Unverkrampft transparenter Anzeihungspunkt: das Werk 12 | © Ossip van Duivenbode

Auf derselben Etage, nach Norden, soll es in Zukunft stürmischer zugehen, besonders nachts: Die Ausbauten eines neuen Clubs stehen hier kurz vor dem Abschluss. Highlight mit Alleinstellungsmerkmal der neuen Partylocation ist die großzügige Terrasse mit Blick über die Gleisstränge des Ostbahnhofs bis zur Silhouette der Münchner Altstadt. Fünfte Etage bedeutet im Werk 12 satte 22 Meter über dem Platzniveau. Denn die Geschosshöhe liegt bei 5,50 Metern, und das ist nur eines von vielen Features, die das Gebäude so außergewöhnlich machen. »Eigentlich waren für den 28 Meter hohen Würfel sechs Geschosse mit hohen Räumen geplant – wie Lofts in alten Fabrikhallen. Wir dachten, wenn schon hohe Räume, dann richtig hohe. Mit den jetzigen fünf Geschossen haben wir die Möglichkeit, halbe Zwischengeschosse einzuziehen, die wie Möbel frei aufgestellt werden können. Das schafft Raumqualitäten, die es so in München nur selten gibt. Durch die Zwischengeschosse verlieren wir nicht einmal vermietbare Fläche«, erklärt Oefele.

Im Rohbau des Erdgeschosses zur Platzseite hin ist derzeit eine Ausstellung über das künftige Werksviertel aufgebaut. Auch hier zeigt sich die Stärke der Nutzungsneutralität: Demnächst soll hier ein Restaurant einziehen, mit dem Innenausbau wurde noch nicht begonnen, damit der Pächter mitreden kann.

Vorbild für die Zukunft

Der DAM-Preis hat wie jeder Architekturpreis mehrere Funktionen. An der Oberfläche geht es darum, die Anstrengungen für ein gelungenes Werk zu honorieren. Viel wichtiger ist es jedoch, die aktuelle Produktion der eigenen Profession zu diskutieren und zu reflektieren, zunächst innerhalb der Fachjury, nach der Verleihung des Preises in den Medien und im Austausch unter Kollegen. Architekturpreise sind aber auch ein anschauliches Kommunikationsmittel, um komplexe Planungsabläufe und bauliche Lösungen komprimiert darzustellen. Siegerprojekte sollen immer auch eine Vorbildwirkung haben und die künftige Entwicklung des Bauens positiv beeinflussen. Lassen sich also Qualitäten des
Werk 12 auf das ganz normale Bauen übertragen?

Die Auszeichnung honoriert den Mut, ausgetretene Wege zu verlassen, Neues zu wagen und Urbanität als Ausdruck unserer Kultur bei aller professionellen Qualität mit einer gewissen Lässigkeit und mit Humor zu leben. »Bei unserer täglichen Arbeit als Architekten lernen wir immer besser, all die Normen und Regeln abzuspulen, gleichzeitig verlernen wir, viele dieser Regeln auf Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Unsere niederländischen Kollegen von MVRDV gehen da viel unverkrampfter an die Sache heran, das kann München nur guttun«, bekennt der Architekt. Und er betont die Rolle des Bauherrn: »Das Werk 12 ist ein Ausnahmeprojekt, das ohne die Bereitschaft und Möglichkeit des Bauherrn, auf eigenem Grund und Boden unkonventionelle Wege zu gehen, nicht möglich gewesen wäre.« Vielleicht kann auch die Stadt davon lernen? Vergebene Chancen vom Heizkraftwerk im Glockenbachviertel bis zur laufenden Planung am Sattlerplatz: Für Urbanisierung statt Gentrifizierung, Humor statt Kommerz gäbe es auch in Münchens Altstadt oder in den neuen Wohnquartieren reichlich Potenzial.

Von Werk 12 lernen

Nach den Erfahrungen von Christoph von Oefele kann man es sogar noch besser machen: »Mit den über fünf Meter hohen Verglasungen, den über drei Meter auskragenden, thermisch getrennten Laubengängen und Sonnenschutzmarkisen, die auch bei starkem Wind in dieser Höhe noch funktionieren müssen, sind wir an konstruktive und wirtschaftliche Grenzen gestoßen. Wir haben aber viel gelernt: Bei Folgeprojekten werden wir die Geschosshöhen noch höher planen, um auf den Zwischenebenen mehr Kopffreiheit zu haben und dadurch in der Nutzung noch flexibler zu sein. Die außen liegende Erschließung inklusive Fluchtweg hat zur Folge, dass die Zwischenebenen nicht barrierefrei erreichbar sind, alle primär erforderlichen Nutzungen müssen also auf den Hauptebenen angeordnet werden. Mit innen liegenden Erschließungskernen werden wir beim nächsten Mal noch variabler in der Art und Verteilung der Nutzungen sein.«

WOW, AAHHH, HMPF, OH, PUH, HIHI – das könnten auch die Kommentare der Flaneure sein, die als Voyeure in die hell erleuchteten Schaufenster blicken und beleibte Männer mit Handtuch um die Hüften, hübsche Models im kleinen Schwarzen, übernächtigte Büromenschen an ihren Schreibtischen oder quietschvergnügte Partygänger beim Tête-à-Tête parallel im selben Gebäude beobachten. Der Soziologe Armin Nassehi definiert Urbanität nicht als harmonisches Miteinander, sondern als die Fähigkeit, Gegensätze und Andersdenkende auszuhalten, also die Solidarität unter Fremden: »Der indifferente Blick, nicht auf den anderen zu reagieren, sich trotz Sichtbarkeit unbeobachtbar zu machen, Blicke ebenso wie Nicht-Blicke aushalten zu können, diese Praxis müssen wir lernen einzuüben.« In diesem Sinn ist das Werk 12 nicht nur ein lebendiger Baustein, der Spaß macht, sondern ein wichtiger Beitrag zur offenen toleranten Stadtgesellschaft. ||

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