Das Diözesanmuseum in Freising hat nach neunjähriger Umbaupause mit dem selbstbewussten Slogan »Wie immer. Nur neu« wieder geöffnet. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Denn was man am Ende des steilen Kopfsteinpflasterweges vorfindet, ist tatsächlich alles außer gewöhnlich.

Diözesanmuseum Freising

Wellness von oben

diözesanmuseum

Das Diözesanmuseum thront auf dem Domberg

Freising ist ein seltsamer Ort: Man kommt am Bahnhof an, und dann muss man sich erstmal orientieren: Wo ist sie denn nun, die Stadt? Über die eine oder die andere Einfallstraße, die sich eher wie eine Ausfallstraße anfühlt, geht man los, und die einzige verbindliche Orientierung, die sich dem Fremden bietet, ist: der Domberg, mit seiner weithin sichtbaren zweitürmigen Kirche. Das wird kein Zufall sein, denn Freising als Sitz der Erzdiözese München und Freising, deutlich älter als München, war schon immer von der Macht der Kirche geprägt. Oben der Dom und die Kirchenmänner, unten das Volk. Deutlicher kann man die gesellschaftliche Hierarchie kaum darstellen. Man läuft also auf den Berg zu und stolpert dabei eher zufällig durch den alten Kern der Stadt, allerdings wenig belebt und vor allem von Baustellen zerklüftet. Egal, wir wollen hier ja keinen Urlaub machen, wir wollen auf den Domberg, wo nach neun Jahren Bauzeit (nur neun Jahre! So schnell! denkt sich der Münchner neidvoll, so geht es also auch!) im Oktober das Diözesanmuseum eröffnet hat.

Das Museum wurde 1974 in den Räumen des 1870 errichteten ehemaligen Knabenseminars eröffnet und zeigte bis 2013 dort Objekte von der Romanik bis zum Rokoko, Gemälde und Skulpturen des 19. Jahrhunderts und immer wieder auch zeitgenössische Kunst. Das Haus beherbergt eine große Abteilung für religiöse Volkskunst, eine riesige Krippenausstellung, ein Ikonenkabinett und den Freisinger Domschatz. Christoph Kürzeder übernahm 2012 die Leitung des Hauses, das im Juli 2013 geschlossen wurde, weil die technische Ausstattung und die Infrastruktur nicht mehr den Anforderungen eines modernen Museums entsprachen. Die anstehende Renovierung hing lange in der Luft, aber als die Schließung »bis auf Weiteres« mitgeteilt wurde, kam es doch sehr plötzlich. »Bis auf Weiteres« sollte neun Jahre lang dauern. Währenddessen realisierte Christoph Kürzeder mit seinem Team sehr erfolgreich lebensnahe Themen-Ausstellungen in Kloster Beuerberg bei Wolfratshausen und bei den Ursulinen in Landshut, arbeitete mit anderen kulturellen Einrichtungen wie dem Bayerischen Nationalmuseum in München oder der Hypo Kunsthalle zusammen, pflegte alte und knüpfte neue Netze. Parallel entwickelte er ein zeitgemäßes, zukunftsfähiges Museumskonzept für den Domberg: Wesentlich ist die Idee, aus der Trutzburg ein offenes Haus zu machen, für die Freisinger Bevölkerung ebenso wie für kunstinteressierte Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Zum einen soll immer wieder neu der vielseitige riesige Bestand präsentiert werden, zum andern soll dieser mit zeitgenössischer Kunst in Dialog treten, wie zum Beispiel mit Werken von Anselm Kiefer, Neo Rauch, Brigitte Kowanz und Brigitte Stenzel. Der Brückenschlag von der Historie zur Gegenwart spiegelt auch den Ansatz, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft fortwährend zu hinterfragen.

Ins Offene!

Lichthof mit mediterranem Flair

Nähert man sich dem weiß verputzten Diözesanmuseum, ist die erste Feststellung: Das sieht aber italienisch aus! – auch wenn die Assoziation zum Kongresszentrum im römischen EUR ein wenig irritieren mag. Die hohen, sprossenlosen Bogenfenster sind ebenso klassisch wie modern, und spätestens damit ist klar, dass hier zwar ein altes Gebäude steht, das ab jetzt aber sehr neu interpretiert wird. Die Sanierung leitete das Büro Brückner&Brückner Architekten. Sie formulierten die Idee der »geöffneten Wände«, durch die das Innenleben des kleinteiligen, labyrinthischen ehemaligen Knabenseminars neu strukturiert und gelüftet wurde. Passiert man den Eingang durch die schlichte Holztür, die an den Eingang zur benachbarten Korbinianskathedrale erinnert, tritt man in einen hellen, hohen Lichthof, filigran überdacht von einer von Holzstreben strukturierten Glasdecke. Vor der Renovierung lag ein dunkles Flachdach wie ein Deckel auf dem Innenhof. Auf zwei Etagen umlaufen Wandelgänge das Atrium, Reminiszenz an den klassischen Kreuzgang, von denen man in die dramaturgisch, nicht chronologisch sortierten Bestandspräsentationen und in die Sonderausstellungen gelangt.

Wichtig war den Architekten auch die Haptik der Materialien, was man zum Beispiel am Handlauf entlang der Treppen sofort feststellt: Ein Treppengeländer als Handschmeichler! Lüftungsgitter sind unauffällig in die Decken- und Wandgestaltung integriert, die Bibliothek ist ein Rückzugsort wie in einem Oberklassehotel, sogar die Sanitäranlagen sind nicht nur zweckmäßig, sondern auch noch schön (hier fehlen nur noch die Kleiderhaken an den Toilettentüren). Nicht zuletzt das Restaurant im Untergeschoss mit traumhafter Terrasse ist einen Museumsbesuch wert: Die kleine, aber außerordentlich feine Speisekarte, hervorragende Kuchen und der sehr sympathische Service sind ein eindeutiger gastronomischer Gewinn für Freising. Das Lokal ist auch ohne Museumsticket zugänglich, aber den Gang durch die Sammlungen sollte man sich dennoch keinesfalls entgehen lassen.

Entgrenzende Erfahrung

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Eintauchen ins Licht: »A CHAPEL FOR LUKE and his scribe Lucius the Cyrene« von James Turrell | © cp

Einer der überwältigendsten Momente ist gleich beim Eintritt ins Atrium der Blick durch den Innenhof zur Hauskapelle, die der Lichtkünstler James Turrell mit der Lichtinstallation, »A CHAPEL FOR LUKE and his scribe Lucius the Cyrene« bespielt. Wenn man früh kommt, hat man gute Chancen, das Lichtbad ganz allein und ausgiebig zu genießen, von Rot-und Grüntönen über  komplementärkombinationen wächst aus der nach oben gerundeten, die Form der Bogenfenster aufnehmenden Fläche ein Farbkreis hervor, der wie der Mond mehr oder weniger voll erscheint. Die faszinierende Kraft der Installation ist körperlich wahrnehmbar, wenn man seinen Standort gebannt gar nicht mehr verlassen mag. Das Bad im Licht kann auch für konsequente Skeptiker zum spirituellen Erlebnis werden: Die Grenze zwischen Licht, Farbe und Raum löst sich auf, was zu einem völligen Verlust der Tiefenwahrnehmung führt. Und genau das ist es, was Kürzeder mit dem Haus erreichen will: Es soll ein Ort der Konzentration sein, als Gegenstück zur Sekundenaufmerksamkeit, die den Smartphone-Alltag kennzeichnet. Berlinde de Bruyckeres überlebensgroße Bronzeskulptur des Erzengels, der sein Haupt verhüllt, sorgt im Lichthof ebenso für ein Momentum des Innehaltens, wie die beiden Langzeitbelichtungs-Fotoarbeiten von Michael Wesely, die das Museumsteam von der Schließung 2013 bis zur Wiedereröffnung 2022 zu einem Gesicht verschmelzen lassen.

Tanz auf dem Vulkan

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Zeitgenössische Kunst im Dialog mit sakralen historischen Schätzen © Diözesanmuseum Freising, Foto: Thomas Dashuber(3)

Der Ausbruch des Vesuv: eine göttliche Strafe in Zeiten überbordender Sinneslust? Wie prägt die permanente Bedrohung durch eine unkontrollierbare Naturgewalt das Leben und den Glauben heute? Und wie kann man sich vor Zerstörung und Untergang schützen? In Neapel, zwischen zwei Vulkanfeldern gelegen, haben sich über Jahrhunderte sehr spezielle Kulturtechniken entwickelt, mit denen die Menschen dieser Bedrohung begegnen. Die Stadt verfügt einerseits über weltweit führende Institutionen im Bereich der wissenschaftlichen Vulkanologie, aber gleichzeitig wird der Aspekt des Übernatürlichen mindestens genauso ernst genommen. Auf dem Grat zwischen Erkenntnis und Glaube wandert man durch die in pompeianisches Rot getauchte erste Sonderausstellung. Man wird zum Zeugen des multimedial dargestellten Ausbruchs im Jahre 79 n. Chr. und betrachtet beklommen die Tafeln, auf denen sehr genau die Campi Flegrei westlich von Neapel zu erkennen sind, deren prognostizierte Explosion Folgen hätte, die die legendären Ausbrüche des Vesuv wie göttliche Fingerübungen anmuten lassen würden. Schutz vor der finalen Katastrophe bietet San Gennaro: So lange sich sein eingetrocknetes Blut immer wieder verflüssigt, ist die Bürgerschaft zuversichtlich, dass sie nichts Verheerendes erwartet.

Es ist berührend zu sehen, wie sehr die tiefkatholische Gläubigkeit und ihr vielfältiger Heiligenkult (all die »Unterheiligen«, die San Gennaro in seiner Funktion als Schutzheiligen »unterstützen«) mit der von der Kirche verpönten »heidnischen Vielgötterei« im alltäglichen Leben verwoben sind. Jedes Jahr im Frühling werden die Silberbüsten des San Gennaro und seines Heiligen-Kollegiums, der »compatroni«, auf den Schultern ausgewählter Bürger durch die neapolitanische Altstadt getragen, begleitet von den Stadtbewohnern. Das wichtigste und heiligste Objekt ist die Glasphiole mit San Gennaros verflüssigtem Blut, die der Bischof von Neapel voranträgt. Sie wird in höchster Ergriffenheit angebetet und besungen. »Weit über die religiöse Dimension hinausgehend, ist der Kult von San Gennaro mittlerweile zum bürgerschaftlichen Sinnbild geworden, was sich daran zeigt, dass der Schutz der Ampullen mit seinem Blut einer weltlichen Institution anvertraut ist, deren Vertreter nicht von der Kirche, sondern von der italienischen Regierung ernannt werden«, liest man staunend im sehr informativen Ausstellungskatalog.

Eine auffallend große Zahl dieser herausragenden und historisch relevanten Stücke ist nun zum ersten Mal außerhalb von Neapel zu sehen: in einem eigenen Raum im Diözesanmuseum kann man sie abschreiten und aus nächster Nähe betrachten. Wie es Christoph Kürzeder gelungen ist, die Neapolitaner dazu zu bringen, sich für einige Monate von ihrem unfassbar kostbaren Domschatz zu trennen, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. ||

TANZ AUF DEM VULKAN
Diözesanmuseum | bis 29.1.23 | Di–So 10–18 Uhr | Sonderausstellung

Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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