Nina Hoss und Lars Eidinger brillieren im Lebens- und Familiendrama »Schwesterlein«.

»Schwesterlein«: Komm, stirb mit mir

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Anrührend, doch niemals gefühlsduselig: Lars Eidinger in »Schwesterlein« | © Vega+Film

»Wir spielen Hamlet! Ich bin bereit.« Lars Eidinger alias Sven (oder umgekehrt?) tritt plötzlich während einer Umbesetzungsprobe zu Thomas Ostermeiers berühmter »Hamlet«-Inszenierung aus dem Hintergrund der (realen wie Film-) Bühne. Obwohl er bereits mit grellen Perücken unterwegs ist, die seine schwere Leukämieerkrankung wenigstens optisch kaschieren sollen, will es der Starschauspieler der nicht minder berühmten Berliner Bühneninstitution in Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds »Berlinale«-Erfolg noch einmal wissen. Womöglich ein allerletztes Mal, denn weder neue Behandlungsmethoden noch klassische Knochenmarkstransplantationen zeigten bisher Erfolg. Die Ärzte haben ihn medizinisch betrachtet noch nicht vollends aufgegeben, aber eine Rettung vor dem Unvermeidlichen scheint stetig unwahrscheinlicher zu werden: Svens Lebensuhr tickt herunter. Täglich schneller, während er sich physisch immer elender fühlt und sich häufig erbricht. Svens einzig verbliebener Lichtblick, der mittlerweile ohne Mann lebt und fortan nicht mehr besetzt werden soll, ist dessen Zwillingsschwester Lisa (Nina Hoss).

Mit ihr ist er sowohl menschlich wie künstlerisch geradezu symbiotisch verwachsen. Und obwohl sie parallel zu Svens einschneidender Diagnose inzwischen als Theaterautorin verstummt ist und sich zunehmend in einer familieninternen Midlife-Crisis befindet, hatten beide zusammen kurz zuvor noch phänomenale Bühnenerfolge gefeiert. Beide Male unter anderem an der Schaubühne Berlin, deren realer Leitungskopf Thomas Ostermeier plötzlich selbst mehrfach in »Schwesterlein« in Erscheinung tritt: als regieführender Schauspieler wohlgemerkt, was die Meta-Ebene in Chuats und Reymonds berührendem Totengesang im Angesicht des vibrierenden Theaterlebens sowie des gleichzeitig verglühenden realen Lebens nicht nur für theateraffine Zuschauer in Deutschland zusätzlich außerordentlich reizvoll macht. Für dieses anrührende, keinesfalls gefühlsduselige Lebens- und Geschwisterdrama mit tödlichem Ausgang haben die beiden Schweizerinnen, die selbst Schauspielerinnen sind und seit langem als Kreativduo zusammenarbeiten, ein ausgezeichnetes Schauspielerquartett vereint. Denn neben dem furiosen Eidinger und einer noch glänzenderen Nina Hoss, die sich beide seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Ernst-Busch-Schauspielschule kennen und für die dieser Filmstoff vom Autorinnenduo explizit geschrieben wurde, überzeugen auch die ehemalige Al Pacino-Muse Marthe Keller (»Der Marathon-Mann«) und der dänische Serienexport Jens Albinus (»Der Adler«/»Borgen«) in den Nebenrollen. Erzählt als Erwachsenenfabel zwischen Kreativdasein und den Zynismen des Neoliberalismus punktet »Schwesterlein«, den die Schweiz ins »Oscar«-Rennen für den besten fremdsprachigen Film schickt, sowohl als gekonntes Seelendrama wie als metatextuelles Kunstmärchen zwischen der kalten Kunstmetropole Berlin und den überbordenden Schweizer Bergpanoramen. Sozusagen aus dem Schatten ins Licht: nur ein Zurück, das gibt es nicht. ||

SCHWESTERLEIN
Schweiz 2020 | Regie: Véronique Reymond, Stéphanie Chuat
Mit: Nina Hoss, Lars Eidinger u.a. | 101 Minuten | Kinostart: 29. Oktober

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