»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« ist wohl der vertrackteste und verstörendste Film des Kinosommers. Und nebenbei ein Hohelied auf die ungestüme Macht der Fiktion.

»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«: Wenn einer eine reise tut …

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Verliert sich in der Fiktion: Pilar Castro | © David Herranz

Was soll das jetzt werden? Wer erzählt hier nun was? Und wie soll man als Zuschauer auf den ganzen Wahnsinn reagieren? Aritz Morenos Langfilmdebüt »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« ist in mehr als nur einer Hinsicht anstrengend – und in vielerlei Hinsicht genial. Aber anders als im Film, nun alles der Reihe nach.

Die Verlegerin Helga (Pilar Castro) hat ihren Mann, nachdem sie ihn in einer ungustiösen Situation vorgefunden hat, in die Psychiatrie einweisen lassen. Auf der Rückreise wird sie im Zug vom vermeintlichen Psychiater Ángel Sanagustin (Luis Tosar) angesprochen, der ihr mit der Geschichte seines außergewöhnlichsten Patienten die Zeit verkürzen will. Als der Doktor damals sein neues Haus (inklusive riesigem Müllberg) bezog, erhielt er einen aufsehenerregenden Brief, in dem eine junge Frau vom bestürzenden Zustand ihres Bruders, einem Kriegsversehrten, berichtet. Der erzählte bei seiner Heimkehr vom Grund seiner Entlassung, die wiederum auf den Bericht einer Krankenschwester zurückzuführen war, die ihm gestand, dass … ja, hier wird es schon sehr früh bizarr.

Moreno bedient sich in ausufernder Weise der Erzählung in der Erzählung, bis die Rahmenhandlung in weite Ferne gerückt ist. Und selbst als sich die Struktur einigermaßen klärt, streut er neue Verwirrtaktiken ein, nicht nur in der Abfolge der Handlung, sondern auch was die Identität seiner Figuren angeht. »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« stehen damit klar in der surrealistischen Tradition eines Luis Buñuel. Der Spaß, den Moreno dabei hat, ist unübersehbar und steckt dafür offene Zuschauer und Zuschauerinnenschnell an. Mit der Logik muss man es dabei nicht immer so genau nehmen, schließlich – und das betont er gern – befinden wir uns im Reich des Fiktiven, in dem alles erlaubt ist.

Und das kann auch gerne unbequem sein. Ähnlich wie Buñuel haut Aritz Moreno dem Publikum allerhand Abartiges um die Ohren. Sein Film ist nicht nur gewagt, was seine Erzählstruktur angeht, sondern er richtet den Fokus auch immer wieder auf das Perverse und Widerliche. In einem Moment ist das noch tiefschwarzer Humor, im nächsten nur noch verstörend und schier unerträglich. Über die Details soll an dieser Stelle der Mantel des Schweigens gebreitet werden, es sei nur so viel gesagt: Nerven und Magen sollten in stabilem Zustand sein. Oft wirkt das etwas willkürlich und reißerisch. Auf der anderen Seite ist dieser filmische Extremismus auch eine Möglichkeit, mit der Vorhersehbarkeit- und Gefälligkeit des normalen Unterhaltungskinos zu brechen. »Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber« von Peter Greenaway lässt grüßen. Und eine Auffrischung in Sachen surrealer Tabubruch war schon länger mal wieder nötig.

Kann man »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« uneingeschränkt jedem Leinwandliebhaber empfehlen? Nein. Sollte man dieser Perle der erzählerischen und geschmacklichen Verirrungen eine Chance geben? Auf jeden Fall! Der Regisseur selbst bringt es eigentlich am besten auf den Punkt: »Der Film ist ein Fest der Fiktion. Ohne Einschränkung.« Es darf also gefeiert werden. ||

DIE OBSKUREN GESCHICHTEN EINES ZUGREISENDEN
Spanien 2019 | Regie: Aritz Moreno | Mit: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio | 103 Minuten | Kinostart: 20. August

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