Maria Speths Langzeitdokumentation »Herr Bachmann und seine Klasse« ist einer der schönsten Filme des Jahres.

Herr Bachmann und seine Klasse

Lernen fürs Leben

herr bachmann

Ein Lehrer mit Idealen, Herr Bachmann inmitten seiner Klasse | © Madonnen Film

Die Noten seien nur eine Momentaufnahme und sagten nichts über sie als Menschen aus, verkündet der Lehrer am Zeugnistag. Es zähle doch, dass sie alle tolle Jugendliche seien. Was aus dem Zusammenhang gerissen wie eine Bankrotterklärung des Bildungssystems klingen könnte, bringt vielmehr ein zutiefst menschliches und ganzheitliches Weltbild auf den Punkt: Dieter Bachmann steht kurz vor der Rente und ist Gesamtschullehrer im kleinen hessischen Ort Stadtallendorf nahe Marburg.

Für die Kinder seiner sechsten Klasse geht es am Ende des Schuljahres um die Frage, ob sie anschließend auf die Haupt- oder Realschule gehen, vielleicht auch aufs Gymnasium. Die Schule liegt in einer von vielen deutschen Industriestädten, deren Anlagen zum Teil aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Damals war hier Europas größte Sprengstofffabrik, in der Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter schufteten. In den 1960er Jahren siedelten sich hier Eisenfabriken und Lebensmittelproduktion an und lockten Gastarbeiter aus Südeuropa her. Bachmanns Klasse ist entsprechend heterogen – teilweise in zweiter oder dritter Einwanderergeneration, teilweise gerade erst mit den Eltern aus Krisengebieten hergezogen. Kulturelle und sprachliche Barrieren sind Alltag, aber in Bachmanns Klassenzimmer kein Hindernis, ganz im Gegenteil.

Die Filmemacherin Maria Speth hat die Klasse durch ein Schulhalbjahr begleitet, lernt Bachmann und die 12- bis 14-jährigen Kinder nicht nur kennen, sondern nimmt Anteil an ihren individuellen Geschichten und dem gemeinsamen Versuch, miteinander und voneinander zu lernen. Das geht für Bachmann weit über den regulären Schulstoff hinaus, bewegt sich jenseits von Bruchrechnen, Englischvokabeln und Kunstunterricht. Er sieht die Entwicklung der Kinder ganzheitlich, fragt immer wieder, was gerade zu Hause ansteht, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen – schwierige Fragen werden einfach so lange zerlegt, bis sie bewältigbar erscheinen. Die Couch im Klassenzimmer steht allen für kurze Pausen zur Verfügung, auch Bachmann selbst hält dort manchmal Mittagsruhe. Regelmäßig steht auch ein »Abtauchen« auf dem Stundenplan, ein paar Minuten Entspannung auf der Schulbank und das tägliche »Schlaglicht«, um den Tag gemeinsam zu reflektieren. Sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten überbrückt Bachmann mit Musik – eine Seite des Klassenzimmers sieht aus wie ein Proberaum und wird auch als solcher genutzt. Bachmann, immer in Strickmütze und Schlabberklamotten, freut sich aufrichtig mit den Jugendlichen, wenn sie beim gemeinsamen Jammen ungeahnte Talente in sich selbst entdecken. Schule, wie Bachmann sie versteht, ist ein Schutzraum, in dem Lehrstoff und Selbsterfahrung gleichermaßen wichtig sind und miteinander ausprobiert und abgewogen werden können.

»Herr Bachmann und seine Klasse« – der Titel ist so unaufgeregt wie der Film selbst – braucht die beinahe vier Stunden, um das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen und bekommt so viel mehr zurück. Speth zeigt nicht nur einen Ausnahmepädagogen, sondern führt beinahe beiläufig vor, was »Lernen fürs Leben« tatsächlich bedeuten kann. Der Film ist, ganz nach Bachmanns Entspannungsprinzip, ein Abtauchen in eine zutiefst menschenfreundliche Weltsicht, die sich wie eine Superkraft anfühlt: Kurz scheint es möglich, mit einer kleinen Perspektivverschiebung alle Probleme zu lösen, die das Universum einem so zuspielen könnte. Aufgetaucht aus diesem Klassenzimmer und zurück im eigenen Leben mit den eigenen Stolperstellen, würde man ihn am liebsten um Rat fragen. Vielleicht hilft aber auch schon ein kurzes Innehalten und die Frage: »Was würde Herr Bachmann tun?« ||

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE
Deutschland 2021 | Buch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider | Regie: Maria Speth | Mit: Dieter Bachmann, Aynur Bal, Önder Cavdar, Schülerinnen und Schüler der Klassen 6b und 6f | 217 Minuten | Kinostart: 16. September

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