Jan Friedrichs Bearbeitung von Kafkas »Verwandlung« fragt nach den Grenzen des Menschseins.
Ein Mann mit quietschgelbem Gesicht und Comic-Augen betritt die Bühne. »Von Anfang an habe ich ihn verachtet!«, bricht es aus ihm. »Das ist nicht übertrieben!« Es ist die Hassrede eines Vaters über den »Egoismus eines Neugeborenen«, der »wie Unkraut wuchert« und die Ehefrau in etwas Abstraktes verwandelt: »die Mutter«. David Benito Garcia schraubt sich in hysterische Höhen und kommt zu dem Schluss: »Es war kafkaesk!«
Jan Friedrich, der an der Schauburg bereits Wedekinds »Frühlings Erwachen« inszeniert hat, nimmt sich Franz Kafkas »Die Verwandlung« vor. Friedrich ergänzt seine Bearbeitung mit eigenen Texten und solchen von Henrik Ibsen und Virginia Woolf. Sein durchweg grandioses Ensemble steckt er in grelle Kostüme, Plastikperücken und Masken im Look der Simpsons. Knallgelb und mit comicartiger Mimik werden sie zu skurrilen Prototypen ihrer selbst: Vater, Mutter, Schwester.
Der Sohn, der sich eines Morgens verwandelt wiederfindet, multipliziert sich quasi mit sich selbst: Janosch Fries, Simone Oswald und Michael Schröder spielen alle den Gregor Samsa. In pinken Strumpfhosenoveralls kriechen sie mal vierhändig, mal zweihändig durch das Multifunktionshaus, das Robert Kraatz entworfen hat. Dank Videoübertragung hängen sie insektenmäßig an der Decke, um dann wieder hart auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Wer da anders ist und nicht funktioniert wie gewünscht (die Frage, was hier normal ist, wird durch die skurrilen Kostüme ganz nebenbei ad absurdum geführt), der hat auch keine Rechte mehr. In einer kurzen Passage kann Friedrich es sich nicht verkneifen, diese ohnehin offensichtliche Kritik in Worte zu fassen und seinem Gregor einen Monolog über Menschenrechte in den Mund zu legen. Das wäre subtiler schöner gewesen, aber geschenkt: Denn schnell kommt Papa Simpson – nein: Samsa – wieder auf die Bühne, zieht die Moralbremse und schmettert »Oh! Darling« von den Beatles. »I’ll never do you no harm.« Wer’s glaubt.
Felix Rösch hat zu dem wahnsinnigen Treiben Songs aus der LP-Kiste gekramt, die rüberkommen, als wären sie extra für diesen Abend geschrieben. Da singt Gregor Queens »Bohemian Rhapsody« (»Is this the real life«) und im Chor mit seiner Familie Terry Jacks’ »Seasons in the sun« als Erinnerung an bessere, unverwandelte Zeiten. Diese »Verwandlung« ist eine großartige Ensembleleistung, eine Parabel vom Anderssein, von Hilflosigkeit und der Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer. Sie stellt Fragen nach den Grenzen des Menschseins, schöpft alle Mittel des Theaters aus und setzt sie zu einem überwältigenden Ganzen zusammen. Sie ist spielerisch, musikalisch, mutig, bildstark, beklemmend und anrührend. Man könnte glatt sagen: kafkaesk. ||
DIE VERWANDLUNG
Schauburg – Theater der Jugend |15., 16. Nov. | 19 Uhr
18. Nov.| 11 Uhr | 19. Nov.| 10 Uhr | Tickets 089 23337155
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