Zerstückelung und Entfaltung, Tod und Heilung: Das Haus der Kunst zeigt in einer großen Retrospektive das Werk von Kiki Smith.

Kiki Smith: »Born«| 2002 | Bronze, 99,1 x 256,5 x 61 cm | Foto: Ellen Page Wilson, courtesy Pace Gallery, © Kiki Smith, courtesy Pace Gallery

Lilith kriecht an der Wand nach oben und blickt glasklar. Der Oberkörper einer gekreuzigten Figur hängt herab, langes Haar verbirgt das in der Höhlung wahrnehmbare Geschlecht von Mann und Frau, während ein anderes Wesen es kopfüber exponiert, auf einem Perlenteppich. Leiber krümmen sich, das Innerste ist nach außen gekehrt, Organe werden zu Reliquien erhoben, um schließlich verwandelt zu werden in die Ganzheit einer paradiesischen Welt. »Procession« ist der Titel einer Schau zwischen Wunden und Wunder mit Werken von Kiki Smith im Haus der Kunst. Er zitiert das Spektakel einer Prozession, das Francis Alÿs inszenierte und filmte. Ein Zug setzte sich am 23. 6. 2002 in Bewegung, der temporäre Umzug von Kunstwerken aus dem MoMa in Manhattan zum MoMA PS 1 wurde zur Prozession.

Man trug Repliken von Hauptwerken moderner Kunst wie Duchamps Fahrrad-Rad und Picassos »Demoiselles d’Avignon« durch die Straßen, erhaben über allem thronend eine lebende Ikone: Kiki Smith.Die Werke der sympatischen Kultfigur ziehen ein in die Räume einer Stadt, der Prozessionen auf ihre Weise vertraut sind. Mit dieser in Europa bisher größten zusammenhängenden Präsentation des Œuvres von Kiki Smith setzt das Haus der Kunst einen weiteren Akzent in der Vorstellung großer weiblicher Künstlerpersönlichkeiten. Man steht noch unter dem Eindruck der »Zellen«, Körperbilder und Erinnerungsräume von Louise Bourgeois, deren Kosmos man hier erleben konnte. Sie ist eine Künstlerin, die Kiki Smith schätzt und mit der Smith inmitten der Werke von Camille Claudel, Jana Sterbak und Berlinde de Bruyckere bildmächtig als Päpstin in der Ausstellung »Les Papesses« 2013 den Papstpalast von Avignon bespielte. Die nun in München gezeigten Werke aus drei Jahrzehnten ihres Schaffens sollen nach der Intention der Kuratorin Petra Giloy-Hirtz am Betrachter vorbeiziehen und sich zu einer »Summa« verbinden, in der die Ideen der schöpferischen Welt von Kiki Smith erkennbar und spürbar werden. Die geradlinige Flucht von fünf Sälen zeigt stille Installationen und Inszenierungen als Stationen, sie verbinden sich aber auch zu Bildern und Erzählungen, zwischen denen sich die Besucher frei orientieren können. Alles ist nahbar, die Kunstobjekte liegen frei am Boden, scheinen sich an den Wänden zu bewegen, offenbaren Welten, deren Teil man beim Nähertreten wird.

»…the whole history of the world is in your body«

 

Kiki Smith: »Guide«| 2012 | Jacquard-Tapisserie, 287 x 190,5 cm | © Kiki Smith, courtesy of the artist and Barbara Gross Galerie, Munich

Kiki Smith wurde 1954 in Nürnberg als Kind der Opernsängerin und Schauspielerin JaneSmith geboren, ihr Vater war der Architekt, Bildhauer und berühmte Wegbereiter der Minimal Art, Tony Smith. Ab 1955 wuchs sie mit ihren Schwestern im Umfeld eines großen Künstlerhauses in New Jersey auf. Sie fertigte für ihren Vater Modelle und berichtet oft, wiesehr sie die Kindheit zwischen formalen Experimenten und katholischer Erfahrung beeinflusste. Bis in die 80er Jahre arbeitete sie in verschiedenen Berufen, ließ sich zur Rettungssanitäterin ausbilden, betätigte sich in künstlerischen Kollektiven. Zutiefst prägte sie der Tod des Vaters 1980 und der Schwester Beatrice, die 1988 an Aids starb. Im Fokus von Smiths Œuvre stehen der menschliche Körper, seine Zeugung, Geburt und der Tod, seineVerletzlichkeit im Leben und die Suche nach
Heilung.

Bis in die frühen 90er Jahre beschäftigt sich Kiki Smith mit dem viszeralen anatomischen Körper und schafft Skulpturen von verstörender Direktheit. Sie porträtiert innere Organe wie den Magen in kostbarer Zerbrechlichkeit aus Glas, stellt Körperflüssigkeiten in den Betrachter spiegelnden Glaspokalen als »Stundenbuch« aus, formt Haut aus blutrot gefärbtem Gampi-Papier, Rippen aus Terracotta, gießt das Urogenital von Mann und Frau in grün oxydierende Bronze. Es ist kein sezierender Blick, der diesen Objekten zugrunde liegt, sondern die Bewunderung für die Formen, die wir alle teilen. Sie macht Verborgenes sichtbar, schärft aber auch durch den Prozess der Fragmentierung und Desintegration den Blick für das Zerbrochene unserer Existenz im Individuellen und Sozialen: »Our bodies have been broken apart bit by bit and need a lot of healing…«.

Ohne dass ein Bruch entstünde, endet diese Werkphase plötzlich, die Künstlerin gestaltet nun den äußeren Körper. Es entstehen lebensgroße Skulpturen, die sich mit Figuren aus dem religiösen, mythologischen und kosmologischen Kontext verbinden. Anfangspunkt dieser expressiven Bildnisse ist eine Marienfigur aus Wachs (»Virgin Mary«, 1992), die den Besucher stark berührt. Aller Attribute und kostbarer Hüllen entkleidet, nackt und bloß bis unter die Haut, steht sie da, umringt von den Exponaten der Organe, die Hände zum Gebet erhoben, den Heiligen Geist herabrufend. Über die Räume hinweg korrespondiert sie mit den gezeichneten Selbstbildnissen von Kiki Smith als Pietà, tote Tiere betrauernd¸ zu ihren Füßen die Skulpturen toter Krähen, die eines Tages nach einer Pestizidvergiftung in New Jersey real vom Himmel fielen.

»…it’s about celebration of being here in this form now…«

1995 ist für Kiki Smith nach eigenen Berichten das Jahr einer radikalen Wende. Wunden scheinen sich zu schließen, Themen der Naturwerden wichtig, das Menschliche vermischt sich mit Wesen der Tierwelt, Märchen wie »Rotkäppchen« und Legenden wie die der Genoveva von Brabant schaffen vielschichtige Denk-und Assoziationsräume, Grenzen werden fließend und durchlässig. Das Œuvre von Kiki Smith ist ein dynamischer Prozess, ein Kosmos, der sich ständig aus sich selbst erweitert. Viele Fäden laufen zusammen in immer wieder neuen Synthesen. Hauptwerk der Ausstellung ist eine Serie von Jacquard Tapisserien, die hier erstmals vollständig präsentiert werden. Die traumhafte Schöpfungspoesie verwebt die künstlerische Welt Smiths mit den Bildern und Visionen des größten mittelalterlichen Bildteppichs »Zyklus zur Apokalypse« aus Angers. Ihrer farbigen, polyphonen Schönheit ist ein eigener Raum gewidmet, gruppiert um zwei Bildwerke der Transition: Selbstbewusst entsteigt ein geheilter, glatter Frauenkörper dem Wolf (»Rapture«, 2001), ein anderer wird geboren aus einem Tierwesen (»Born«, 2002). ||

KIKI SMITH: PROCESSION
Haus der Kunst| Prinzregentenstr. 1 | bis 3. Juni| Mo–So 10–20 Uhr, Do bis 22 Uhr | Der schöne Katalog (Prestel, 224 Seiten, 110 Abb.) kostet im HdK 39 Euro | 13. März, 20 Uhr: Kiki Smith’s Favorite Poems. Lesung von Sophie von Kessel, Moderation Kuratorin Petra GioyHirtz | 8. März, 19.30 Uhr: Führung am Weltfrauentag zum Thema Feminismus | 29. Mai, 18.30 Uhr: Talks & Tours mit Kuratorin Petra Giloy-Hirtz und der Psychoanalytikerin Jeannette Fischer

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