Jürgen Berger und Anna Karasińska erforschen mit »Was ich vergessen habe« im Marstall, wie es sich mit Demenz leben lässt.
Was ich vergessen habe
Kein Ratgeberabend

Steffen Höld, Patrick Isermeyer und Pujan Sadri im Greisenkostüm © Sandra Then
Fast jeder ist schon einmal mit ihr in Berührung gekommen im Verwandten- oder Freundeskreis. Doch die meisten, die selbst von ihr betroffen sind, verlieren erstaunlich schnell das Bewusstsein dafür. Man kann sie als ein Loslassen des Verstands bezeichnen oder als Einbruch des Absurden in die logisch geordnete Welt. Fest steht, Demenz ist eine Reise ohne Wiederkehr, die unterwegs andauernd neue Normalitäten – und nicht nur schreckliche – schafft, und alle Beteiligten immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Man kann durchaus lange mit ihr leben, aber kann man sie auch spielen?
Der Journalist Jürgen Berger und die Regisseurin Anna Karasińska erforschen mit ihrem Projekt »Was ich vergessen habe« nicht nur die Abgründe, sondern besondere Erfahrungen auf der Suche nach dem scheinbar verlorenen Ich. Ausgangspunkt der Recherche war das thailändische Dorf Baan Kamlangchay, wo der Schweizer Verhaltenstherapeut Martin Woodtli vor 20 Jahren das Pionierprojekt einer familiären Betreuung für Demenzkranke ins Leben gerufen hat. Doch davon ist auf der Bühne fast nicht mehr die Rede. Stattdessen geht es um Bewegungen und Begegnungen, um Momente, in denen die gewohnten Muster entgleisen, aber auch neue Verbindungen entstehen.
Ein weißes Quadrat bildet die Spielfläche, umsäumt von einem Sammelsurium aus Alltagsgegenständen – Stühlen, Tisch, Kamin, großen und kleinen Bällen sowie zwei riesigen Findlingen aus Pappmaché. Dort hinein trippeln, schlurfen und stolpern, steif oder gekrümmt und in Slow Motion die fünf Darsteller*innen, setzen sich gekonnt neben eine Bank oder gießen Wasser auf ein umgedrehtes Glas – ein virtuoses Entree, das zugleich zeigt, dass man dem Geheimnis dieser rätselhaften Erosion, bei der die Gedankenketten porös werden, rein äußerlich nicht beikommt.
Im zweiten Versuch kommen alle noch einmal herein, diesmal locker und aufgeräumt als sie selbst. Zusammen erinnern Sibylle Canonica, Steffen Höld, Patrick Isermeyer, Naffie Janha und Pujan Sadri Schönes und Sonderbares aus ihrem Leben und auch das, was sie schon mal vergessen haben. Im dritten Anlauf stellt eine »echte« Altenpflegerin die Schauspielenden dann als Patienten vor und lädt ein, an ihrem Alltag teilzunehmen, für den sich zunächst alle mit schweren Gewichten, Schalldämpfern auf den Ohren und Latexmasken in skurrile Altenmonster verwandeln, bis schließlich Naffie Janha, die jüngste und zierlichste von allen, unter einem verschrumpelten Greisinnengesicht tatsächlich eine Vorstellung von dem Gefühl der leisen Ratlosigkeit und Verlorenheit vermittelt, wenn die vertraute Umgebung allmählich im Nebel verschwindet.
Sibylle Canonica wird in diesem Moment zur rigorosen Verwandten, die darauf dringt, dass es so nicht weitergehen kann, Patrick Isermeyer ist der betrübte Sohn, der mit seiner Liebe und Verantwortung ringt. Pujan Sadri und Steffen Höld spielen zwei Katzen, die sich als anschmiegsame Gefährten anbieten, aber, als es brennt, auch nicht wirklich weiterhelfen können. Um den Umzug – womöglich nach Thailand – anzuzeigen, werden schnell alle Gegenstände spiegelverkehrt auf die andere Seite geräumt, und nach einer Weile der Eingewöhnung bildet eine Schar Statisten von jung bis alt eine Schlange mit der Patientin als Kopf, indem jeder ein Körperteil des nächsten fasst und festhält – so etwas wie eine Schutzkette, die Geborgenheit verspricht.
Manches an diesem Abend wirkt etwas unsortiert und bruchstückhaft, als wäre da noch viel mehr gewesen, aber Lücken im Zusammenhang sind ja auch ein Symptom – und vor allem will hier zum Glück niemand wohlfeile Ratschläge geben, sondern einfach zeigen, dass im Vergessen Schmerz, aber auch noch viel unbeirrbare Kraft und Lebendigkeit liegen kann. ||
WAS ICH VERGESSEN HABE
Marstall | 19. April, 24. Mai | 20 Uhr | Tickets: 089 21851940
Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Valentiniade: Das Karl Valentin-Stück am Residenztheater
Spielart 2023: Interview zur Reihe »When Memories Meet«
Kuckuck Theaterfestival 2023: Das Programm
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton