Die Ausstellung »Jugendstil. Made in Munich« in der Kunsthalle erinnert an die Erneuerung von Kunst und Leben um 1900.
Jugendstil. Made in Munich
Bewegungsenergie und Lebensreform

Obrist-Schüler Hans Schmithals: »Komposition (Polarstern und Sternbild Drache)« | um 1902 | Aquarell, Deckfarbe, Gold, Bleistift, Kohle, 48 x 110 cm © Münchner Stadtmuseum
Frisch, frei, farbenfroh und fließend: So sollte er sein, der neue Stil, nach dem Künstlerinnen und Künstler im ausgehenden 19. Jahrhundert strebten. Es sollte eine Kunst sein, die nicht nur als Bild an der Wand, sondern in jedem Detail wirken sollte: in Kleidung und Besteck, in Möbeln und Fischplatten, in Hausfassaden und Ohrringen. »Jugendstil« taufte man ihn in Deutschland, nach der Münchner Zeitschrift »Jugend«. München war Wiege und Zentrum des deutschen Jugendstils. Die Kunsthalle zeigt nun, wie er aussah, dieser neue Stil. Sinnlich überbordend und mit viel Mut zu Farbe ist die Ausstellung gestaltet, ganz im Sinn des Jugendstils. Das beginnt mit dem teilweisen Nachbau einer Schwabinger Wohnung: Richard Riemerschmid hatte um 1900 das Haus des Versicherungsdirektors Carl Thieme komplett ausgestattet. Ein großer Teil der roten Mahagonimöbel und Dutzende andere Einrichtungsgegenstände haben sich erhalten: Wandbehänge, Skulpturen, Geschirr, Besteck. Als Kontrast zum tiefdunklen Rot wählte Riemerschmid ein kühles Blau, im eigens in diesen Farben angefertigten Teppich laufen die Fäden des Farbkonzepts als psychedelisches Muster zusammen. Von der Lampe bis zum Türbeschlag war in dieser Wohnung in der Georgenstraße alles aufeinander abgestimmt. Schwarz-Weiß-Fotos der Räume zeigen das beeindruckende Ensemble nun als große Fototapeten, davor stehen die originalen Objekte aus den reichen Beständen des Münchner Stadtmuseums, das wegen der Generalsanierung derzeit geschlossen ist. Besucherinnen bekommen so zumindest einen kleinen Eindruck, wie es sich angefühlt haben muss, in diesem Gesamtkunstwerk namens Jugendstil zu leben – ein Projekt, das sich allerdings nur für eine kleine Bevölkerungsschicht verwirklichen ließ.
Wer so viel Originales zeigen kann, muss auch die Replik nicht scheuen: Mit viel Aufwand sind einige der dreidimensionalen Elemente der berühmten, aber sonst eben nur als SchwarzWeiß-Foto bekannten Fassade des einstigen Fotoateliers Elvira von August Endell an der Von-der-Thann-Straße nachgebildet worden: Das zentrale Motiv ist eine Mischung aus großer Welle und Drachen. Endell ging es nicht um eine exakte Nachbildung irgendeines Naturmotivs, sondern um die Bewegungsenergie. Auch Teile der Muschel und der Haare von Sandro Botticellis »Geburt der Venus« klingen an. Für Hitler und Konsorten war das
zu viel, zumal sich das Haus direkt an der Zufahrt zu Hitlers Herzensbau, dem »Haus der Deutschen Kunst« befand. 1937 wurden die Fassadenreliefs abgeschlagen und übertüncht. In der Ausstellung kann man nun einen guten Eindruck von der Energie und phänomenalen Neuartigkeit der Formen gewinnen.

Richard Riemerschmid: »Garten Eden (zweite Fassung)« | 1900 | Öl auf Leinwand im Künstlerrahmen, 160 x 164 cm © Münchner Stadtmuseum, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann
Tiere und Pflanzen standen Pate für den neuen Stil. Die Hinwendung zur Natur war die Antwort auf die krassen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung. Doch wie schon bei Endells Drachenrelief weniger als direkte Vorlage. Es ging den Künstlerinnen und Künstlern ganz allgemein um die Kräfte der Natur. Formenvielfalt und Wuchsformen waren wichtiger als detailgetreue Nachahmung: das Streben, Ranken, Sich-Verzweigen, die Farbenpracht, das Zarte und das Kräftige. Die Stickereien von Hermann Obrist etwa waren eine Sensation. Sein »Wandbehang mit Alpenveilchen« ist keine botanisch korrekte Wiedergabe der Pflanze, es geht um ihren Schwung, um Dynamik und Expansion. Dazwischen immer wieder leere Flächen als Ruhepole und Kontraste, als Raum, in den die bewegten Formen hineinwirken können. Schnell wurde die Stickerei international als »Peitschenhieb« bekannt.
Der Jugendstil ist die große Zeit der Bildteppiche. Eines der schönsten Beispiele ist der »Schwanenteppich« von Otto Eckmann. Die japanischen Einflüsse sind unverkennbar. Statt Tiefenräumlichkeit hat er das Ornamenthafte herausgearbeitet – die Landschaft wird zum Muster. Eckmann hat sogar das schmale Hochformat der japanischen Rollbilder übernommen: Von oben nach unten gleiten die fünf Schwäne auf einem Bach zwischen den schmalen Bäumchen dahin.
Die Hinwendung zur Natur mündete in den Reformgedanken einer natürlicheren Lebensweise, die bis in die Ernährung, Körperkultur und Kleidung reichte, dabei die Kunst aber nie aus dem Blick ließ. In der Ausstellung zu sehen ist etwa das Kleid, das Richard Riemerschmid für seine Frau Ida entwarf: in dunklem Rot mit cremefarbenem Kragen und Bauchband. In seiner Reduktion auf einen einzigen Wollstoff und nur zwei Farben, ganz ohne aufwändige Stickereien oder Rüschen – und vor allem: ohne Korsett! – war das Kleid zu seiner Zeit eine Revolution. Es war bequem – sogar im Sitzen! Riemerschmid hatte es seiner Frau eigens zur Eröffnung des von ihm gestalteten Schauspielhauses – der heutigen Kammerspiele – entworfen.

»Simplicissimus«-Zeichner Thomas Theodor Heine: »Teufel« | um 1904 Bronze, 41,5 x 19 x 23 cm © Münchner Stadtmuseum, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann
Von Raum zu Raum wandelt man in der Kunsthalle durch einen Dschungel aus Farben und Formen, Materialien und Dingen, und doch beginnt man, das Besondere des Münchner Jugendstils bald zu verstehen: Im Unterschied zur französischen Art Nouveau voller floraler Ornamente ist die Münchner Schwester flächiger und klarer – vielleicht wirken die Formen deshalb weiterhin so modern. Da ist etwa eine Reihe von Vasen von Carl-Georg von Reichenbach: die Formen klar und fast zurückgenommen, das Material in kräftig strahlenden Farben von leuchtendem Orange bis zu Lila und milchigem Zitronengelb. Für die Verzierungen hingegen setzte der Glaskünstler mittelalterliche Techniken ein, er legte Glasnoppen und Fäden auf, die sich wie Ranken um die Vasen legen.
Am Ende räumt die Ausstellung sogar noch mit einem Vorurteil auf: Die Jugendstilkünstler wollten keineswegs nur für vermögende Enthusiasten arbeiten. Richard Riemerschmid und Bruno Paul entwickelten deshalb kostengünstige Einrichtungssysteme nach dem Baukastenprinzip, auch diese etwas rustikaleren, aber trotzdem sehr gut gestalteten Möbel zeigt die Schau.
Mit dem Ersten Weltkrieg endet die Hochphase des Münchner Jugendstils. Und heute? Werden wir größtenteils vom rechten Winkel beherrscht. Hier und da gibt es ihn aber noch, den Jugendstil: Im letzten Raum werden Arbeiten des Designers Bodo Sperlein präsentiert, der auch die Ausstellungsarchitektur gestaltet hat – geschwungene Linien und opulente Lampen zeigen: Der Jugendstil lebt weiter. ||
JUGENDSTIL. MADE IN MUNICH
Kunsthalle München | Theatinerstr. 8 | bis 23. März 2025 | tägl. 10–20 Uhr | Info und Programm
Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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