Kate Lister schildert in ihrer Geschichte des Sex jahrhundertealte Klischees und Kurioses rund um das Thema.
Sex. Die ganze Geschichte
Wie steht es mit dem Sex?
423 Seiten über Sex plus fast 90 Seiten Bibliografie. Kate Lister hat sich nicht lumpen lassen, schließlich heißt ihr Buch selbstbewusst »Sex. Die ganze Geschichte«. Die britische Historikerin forscht und schreibt seit ungefähr 2016 über Sex und Sexarbeit, im Jahr2017 gewann sie den »Sexual Freedom Award« als »Publicist of the Year«. Man darf also sagen: Da weiß eine, wovon sie schreibt. Wer sich von diesem Buch nun trockene Wissenschaft erwartet, liegt ebenso falsch wie der, der sich wilde Obszönitäten ausmalt. Lister taucht tief ein in die Materie und deckt verräterische Wertungen in unserer Sprache ebenso auf wie die Verfestigung sexueller Klischees in der Kunst. Ob Shakespeare oder Botticelli, ob Reklame aus den 1930er Jahren oder griechische Keramikmalereien aus dem fünften Jahrhundert vor Christus: Lister schaut überallhin, wo Sex ist, also überallhin, wo Menschen sind und waren. Sie bringt zusammen, was erst einmal nicht zusammengehört, aber erstaunlich gut passt; deckt verborgene Kontinuitäten auf und unerwartet Verbindungen.
Weil dieses Buch in weiten Teilen eines über Sprache ist und Listers Sprache das Englische ist, war die Übersetzung ins Deutsche eine Herausforderung, die Nina Lieke mit scheinbarer Leichtigkeit bewältigte. Allein die versteckten Wortspiele in den zitierten Shakespeare-Passagen machen einem bewusst, dass diesen Autor wohl nur wirklich versteht, wer im Englischen zu Hause ist. Listers Blick auf all diese Kuriositäten und Phänomene von Sexanzeigen in Telefonzellen bis zu historischen Rezepten zur Wiederherstellung der Jungfräulichkeit ist selbstredend immer ein feministischer. Doch auch als Mann darf man schmunzeln ob all der Herren in der Historie, die sich beispielsweise damit brüsteten, die Klitoris »entdeckt« zu haben wie einst Kolumbus Amerika (beides – Kontinent wie Klitoris – waren anderen freilich längst bekannt, als besagte Herren eher zufällig auf sie stießen). Überhaupt kann dieses Buch nur aus dieser enormen Fülle schöpfen, weil Menschen »die einzigen Lebewesen sind, die stigmatisieren, bestrafen und Scham erzeugen, wenn es um ihr sexuelles Verlangen geht«. Noch nie sei ein Gnu wegen seines Latex-Fetisches zur Therapie gegangen oder wurde eine Bienenkönigin eine »Schlampe« genannt,weil sie zu viele Männer habe.
Versteht sich selbst, dass dieses Buch endet mit einem »Und, wie war’s für dich?«. Danke der Nachfrage. Unterhaltsam war’s und lehrreich, lustig und in manchen Teilen ganz schön hart. Die gute Nachricht ist: Wie diesenever ending Story weitergeht, haben wirselbst in der Hand. ||
KATE LISTER: SEX. DIE GANZE GESCHICHTE
Aus dem Englischen von Nina Lieke | btb Verlag, 2024 | 512 Seiten | 20 Euro
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