Mit Witz, Minimalismus und Bällebad zeigt der Brite Martin Creed, dass Kunst banal und tiefsinnig zugleich sein kann. Seine Schau im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt nennt er ironisch »I don’t know what art is« – dabei ist sie Konzeptkunst vom Feinsten.
Martin Creed
Lachend leben
Wer das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt durch die Glastür betritt, muss sich erst einmal einen Weg durch 2500 medizinballgroße, gelbe Luftballons bahnen. Das ganze Erdgeschoss ist damit gefüllt, und wer zur Treppe oder zum Lift gelangen will, muss die gelben Dinger vom Boden kicken oder in die Höhe boxen. Bei mehr als einer Handvoll Besucher knallt es da ziemlich oft. Ein falscher Tritt, und ein Ballon zerplatzt. Das Kunstwerk »Half the air in a given space« löst sich so täglich ein klein wenig selbst auf. Für den Briten Martin Creed ist das eigentliche Kunstwerk ohnehin der »Volumenraum für den Menschen«, der Raum dazwischen. Selbst wenn die zerknallten Ballons von rührigen Museumsmitarbeitenden immer wieder durch neue ersetzt werden, glaubt der Künstler: »Ohne Menschen wäre es kein Kunstwerk.«
Freudig stürzte er sich bei der Eröffnung für die Fotografen in das Ballonbad und warf die gelben Teile wild um sich. Witz hat der Brite. In weichem schottischem Singsang – er wuchs in Glasgow auf – erklärt er auf Englisch, dass er keine Ahnung hat, was Kunst sei, aber das Wort mag. Überhaupt nennt er seine Projekte lieber »Dinge« als »Kunst«. Der 55-Jährige ist längst weltbekannt für seine minimalistischen Werke: 2001 erhielt er für eine rotzfreche Installation den Londoner Turner-Prize, eine der wichtigsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst. Madonna hielt die Ansprache. Das Kunstwerk sorgte für Furore. Denn preisgekrönt wurde Martin Creed für eine leeren Raum, in dem alle paar Sekunden das Licht an und ausgeht. Seitdem ist »Work 227 – The Lights Going on and off« Teil der Kunstgeschichte und Martin Creed als der Mann, der die Welt ad absurdum führt, berühmt. Er ließ auch schon mal einen Jogger alle 30 Sekunden so schnell wie möglich durch eine Museumsgalerie rennen und forderte die Briten bei den Olympischen Spielen 2012 in London zu einem landesweiten Glockenkonzert auf. All seinen Kunstwerken liegt ein hintersinniger Spaß-Appell zugrunde. Denn Kunst, so glaubt er »muss, bei allem Ernst, auch mal Spaß machen«. So hofft er, dass die zerknüllte Papierkugel im Lift nicht gleich als Kunst erkannt wird, sondern von einem aufmerksamen Besucher erspäht und in den Müll geworfen wird.
Creed hat in seiner Ausstellung nichts dem Zufall überlassen, im Gegenteil: Regeln, Ordnung, Struktur sind das Kennzeichen all seiner Arbeiten. Ob er nun Klopapierrollen zur Pyramide stapelt, Kakteen oder Kinderbälle der Größe nach aufstellt, ob er eine Klavierspielerin zu bestimmten Zeiten im »Piece for Piano« die Tasten rauf und runterspielen lässt oder die Museumswände mit »Wall Drawings«, monumentalen Zeichnungen füllt – alles hat System und eine sehr sinnliche Ästhetik.
Schwarzweißstreifen oder rote Gitter an der Wand, exakt gleich große bunte Bänder am Boden, die so vielfältig wie die Menschen unserer Gesellschaft sind: »Ich mag keine Grenzen«, sagt er dazu. Solche Anspielungen versteht jedes Kind. Und genau das will Martin Creed. »Ich glaube fest an das Laien-Dasein«, so sein Credo. Er arbeitet gern mit Vorhandenem, fügt der Wand oder dem Boden keine Kunst hinzu, sondern macht sie selbst zum Kunstwerk. Dabei tritt er gern selbst als sein eigenes Gesamtkunstwerk auf. Zur Eröffnung trug Martin Creed eine große Clowns-Fliege über dem Anzug, Schminke, Papphut, zwei unterschiedliche Schuhe, zwei unterschiedliche Brillengläser, selbst seinen Oberlippenbart hatte er in unterschiedliche Richtungen getrimmt. Dazu baumelte ein Kleiderbügel über der Hose, Dartpfeile steckten in Schulterpolster, Revers und Schuh. Eine kleine Sicherheitsnadel am Hosenbein verriet seine Sympathie für Punks. Als Musiker, Choreograf und Modedesigner ist er schon aufgetreten. Seine Schüchternheit hat er auf der Bühne abgelegt. Immer wieder veranstaltete er Action-Painting-Aktionen oder Konzerte. Sein Kleiderwahn half ihm während des Corona-Lockdowns, als Auftritte und Reisen tabu waren, wenigstens im Supermarkt beim täglichen Einkauf aufzufallen. Sein »Dress to impress« machte den Leuten gute Laune. »Wie Shakespeare schon sagte, die Welt ist eine Bühne, und die Kleider sind meine Show«, erklärt er.
Creeds Werke sind leicht und intuitiv zugänglich, sie sind spielerisch und sofort zu verstehen, dabei aber klug und tiefgründig. Seine Auseinandersetzung mit der Welt ist erfrischend uneitel und direkt. Dabei erinnert er mit seinem Wortwitz und Minimalismus an den professionellen Dilettantismus der Dadaisten. Die plakativen Räume gestaltete er mit Witz und Humor, die Ausstellung folgt dem Motto: einfach eintauchen, sich einlassen. Es gibt keine Wandtexte oder Erklärungen, dafür ein kleines Heft, das man Eingang erhält, in dem man sich selbst fragen kann: Darf Kunst heute alles und nichts sein?
Nach Einschätzung der Macher wirft die Ausstellung mehr Fragen auf, als sie beantwortet. »Gerade ein Museum für Konkrete Kunst wird oft gefragt, wie Kunst zu definieren ist und ob das, was in diesem Haus gezeigt wird, unter einen klassischen Kunstbegriff fällt«, erkärt Museumsdirektorin Theres Rohde. Der Besucher wird quasi selbst Teil des Kunstwerkes und lernt so einen vielschichtigen Kreativen und einen der wichtigsten britischen Künstler seiner Generation kennen. Mit dem Begriff »Konkrete Kunst« konnte Martin Creed bisher wenig anfangen, dafür liebt er konkrete Poesie. Sein Slogan an der Wand ist ein schönes Beispiel dafür: »The whole world + the work = the whole world« ist da zu lesen.
Vorbilder hat Creed viele. Er bewundere »Künstler wie Johnny Cash, Bob Dylan, Samuel Beckett, Andy Warhol und Picasso. Aber am meisten von allen: Shakespeare. Gute Kunst ist wie ein Balkongitter, das einen davor schützt, von den Löwen gefressen zu werden. Man kann sich daran festhalten und gleichzeitig die Welt betrachten, die uns wie ein Dschungel umgibt. Sie vermittelt Orientierung und Sicherheit«. Privat braucht er beides. Fünf Tage die Woche telefoniere er mit seinem Psychoanalytiker. »Wir wissen noch so wenig über unser Seelenleben. Ich finde es sehr hilfreich, zu reden, Leute zu treffen, an verschiedene Orte zu gehen.« Aber auch seine seelischen Abgründe verarbeitet er zu Kunst. In dem Video »Sick Film« dürfen sich Kunststudenten im wahrsten Sinne des Wortes vor der Kamera auskotzen. Creeds Kunst changiert eben haarscharf an der Grenze von Zumutung und Unterhaltung, von Banalem und Tiefsinn. Dabei lebt und arbeitet er konsequent nach dem Motto: »Es gibt nichts Besseres als Lachen, um zu leben.« ||
MARTIN CREED – I DON’T KNOW WHAT ART IS
Museum für Konkrete Kunst | Tränktorstr. 6–8, Ingolstadt | bis 3. März | Di–So 10–17 Uhr | Führungen und Info
Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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