David Van Reybrouck wird für seine mitreißende historische Arbeit über den Befreiungskampf Indonesiens mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.
David Van Reybrouck. Revolusi
Ein Blinder Fleck in der Geschichte
Allein die Arbeit, die sich der flämische Historiker und Archäologe David Van Reybrouck für sein aktuelles Buch »Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt« gemacht hat, ist schon preisverdächtig. Über mehrere Jahre hinweg führte er in indonesischen Altenheimen, entlegenen Dörfern oder in den Bergen Nepals mehr als 200 Interviews in fast 20 Sprachen. Viele seiner Gesprächspartner waren schon weit über neunzig Jahre alt, als sie ihm von ihrem Leben, den Jahren der indonesischen Revolution und des Unabhängigkeitskrieges in den 1940ern erzählten. So spürte er in Australien einen der wenigen indonesischen Kommunisten auf, die die verheerenden Massaker in den Jahren 1965/66 überlebt hatten. In den Niederlanden fand er den damals 102-jährigen Djajeng Pratomo, der zum Studium nach Leiden ging, sich dort dem Widerstand der deutschen Besatzung anschloss und das KZ Dachau überlebte.
Nun gibt es aber noch einige Gründe mehr, warum David Van Reybrouck am 28. November den mit 10 000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Landeshauptstadt München verliehen bekommt. Da wäre vor allem der Gegenstand seines Buchs. Die Befreiung Indonesiens von den ehemaligen Kolonialherrschern ist ein blinder Fleck in der westlichen Wahrnehmung des riesigen Landes mit seinen über 273 Millionen Einwohnern, den offiziell 13.466 Inseln (es könnten auch weit mehr sein) und der weltweit größten muslimischen Bevölkerung. Ereignisse in Indonesien schaffen es kaum in die internationalen Nachrichten. Wenn man etwas kennt, dann ist es die Expat- und Yoga-Hochburg Bali, wobei es nicht wenige geben dürfte, die nicht einmal wissen, dass Bali zu Indonesien gehört.
Van Reybrouck beschreibt in seinem beeindruckenden Buch, wie vor allem eine junge Generation von Indonesiern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs für das Recht auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung kämpfte und wie das Land letztlich nach über 350 Jahren Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit erlangte. Und das gelingt ihm auf furiose und mitreißende Art und Weise. Er selbst bezeichnet sich als »glühenden Anhänger von Oral History«, einer Methode, die er bereits in seinem 2012 erschienenen Buch »Kongo. Eine Geschichte« über die belgische Kolonialgeschichte anwendete. Mit »Revolusi« führt er diese konsequent fort und nimmt sich eines weiteren Kapitels in der düsteren Geschichte europäischer Kolonialherrschaft an. Vor allem den Niederlanden, die Indonesien über mehrere Jahrhunderte hinweg ausbeuteten, attestiert van Reybrouck »auffällige Lücken im Bewusstsein (…) im Hinblick auf die Kolonialgeschichte«, wie er schreibt.
Mit seiner akribischen Recherche, seiner packenden Art des Erzählens und seinem unbändigen Drang, den verschütteten und vergessenen Aspekten der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist er ein würdiger Preisträger des Geschwister-Scholl-Preises. Mit der Auszeichnung werden, wie die Jury schreibt, »die aufklärerische Kraft und intellektuelle Unabhängigkeit, mit der David Van Reybrouck lange verdrängte Kapitel der Kolonialgeschichte in das Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit rückt«, gewürdigt. Nach der belgischen Kolonialgeschichte im Kongo und der niederländischen in Indonesien gäbe es für Van Reybrouck sicherlich auch viel Material zur deutschen Vergangenheit in Afrika oder Ozeanien. ||
DAVID VAN REYBROUCK: REVOLUSI. INDONESIEN UND DIE ENTSTEHUNG DER MODERNEN WELT
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke | Suhrkamp, 2022 | 750 Seiten | 34 Euro (erscheint am 11.12.23 als Klappenbroschur für 20 Euro)
LESUNG MIT DAVID VAN REYBROUCK
Buchhandlung Lehmkuhl | Leopoldstr. 45 | 29. Nov. | 19 Uhr
Weitere Literaturkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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