In Timm Krögers »Theorie von Allem« werden die Schweizer Alpen für einen Physikstudenten zu einem Labyrinth undurchschaubarer Verschwörungen und eigener Albträume.

Die Theorie von Allem

Ein Fiebertraum an Filmreferenzen

theorie von allem

Johannes (Jan Bülow) hat die Pianistin Karin Hönig (Olivia Ross) noch nie zuvor getroffen, oder doch? | © Neue Visionen Filmverleih

Majestätisch thront das Grandhotel zwischen Berggipfeln und Schneehängen in den Schweizer Alpen. Dort soll im Winter 1962 ein Physikkongress stattfinden. Das Thema ist die Theorie von Allem, laut der alle physikalischen Phänomene auf ein Grundmuster zurückzuführen sind. Der Student Johannes Leinert (Jan Bülow) reist mit seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler) an und arbeitet an einer ähnlich spekulativen These. Doch der Doktor reagiert mit Skepsis. Über Physik wird dann erstaunlich wenig diskutiert. Alle Gäste warten auf einen Redner, der nie kommen wird.

Stattdessen häufen sich rätselhafte Ereignisse im Hotel, während draußen Blitz, Donner und Schneestürme über das Gebirge hinwegfegen. Erst begegnet Johannes der Pianistin Karin Hönig (Olivia Ross), die seltsamerweise von seinen Kindheitserinnerungen und Albträumen weiß. Dann verschwindet ein trinkfreudiger Kollege von Dr. Strathen, der die Arbeit von Johannes für bahnbrechend hält. Und es kommt zu Hautausschlägen und Todesfällen unter den Gästen. Der Kongress wird abgesagt.

Johannes bleibt jedoch auf dem gefährlichen Zauberberg. Hypnotisiert folgt er den verschiedenen Hinweisen. Hier driftet die Handlung gelegentlich in Sackgassen ab. Oder positiv gesehen ist dieser Mystery- und Paranoia-Thriller ein endloses Labyrinth, in dem man sich visuell und akustisch gerne verliert. Kameramann Roland Stuprich arbeitet in schwarz-weißen Bildern die kontrastreichen Muster von Teppichböden, Wolkenformationen und Nadelwäldern heraus und verunsichert dadurch umso mehr die Figuren und das Publikum in ihrer Orientierung. Der Komponist Diego Ramos Rodríguez wiederum lässt ein klassisches Orchester aufspielen, das von der harmonischen Spätromantik in die dissonante Moderne abstürzt.

Genauso taumelt der Held Johannes durch die Geschichte. Was findet in dem Hotel wirklich statt? Eine Verschwörung von Altnazis oder Russen? Oder ist Johannes in seinen eigenen Albträumen gefangen? Timm Krögers Film, der auf dem Filmfestival in Venedig lief, konstruiert ein Gedankengebäude aus Filmreferenzen, die eine gewisse Stabilität bieten. Wie in Hitchcocks »Spellbound« und »Vertigo« führen die Träume zu verdrängten Traumata. Auf der individuellen Ebene fürchtet Johannes um das Leben seiner Mutter. Auf kollektiver Ebene geistert das Gespenst des Holocaust und der atomaren Vernichtung durch den Film. Der Doktor und sein Kollege waren beide erfolgreich im Dritten Reich tätig. Karin wiederum sucht nach ihrer jüdischen Identität und ihren verlorenen Eltern.

Um zum Kern der verdrängten Erinnerungen vorzudringen, steigt Johannes in ein dunkles Höhlensystem in den Bergen hinab und irrt wie einst Orson Welles in »Der dritte Mann« umher. Was er dort vorfindet, entzieht sich der rationalen Erklärung. Als Johannes aus dem verschütteten Bergwerk gerettet wird, verläuft die Erzählung mit einem Voice-over im Konjunktiv. Würde, hätte, könnte. So wie sich das Leben von Johannes von da an entwickelt, ist alles möglich, aber nichts sicher. ||

DIE THEORIE VON ALLEM
Deutschland, Österreich, Schweiz 2023 | Regie: Timm Kröger | Buch: Timm Kröger, Roderick Warich | Mit: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, David Bennent u.a. | 118 Minuten | Kinostart: 26. Oktober | Website

Weitere Filmkritiken finden Sie ab Samstag in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: