Die renommierte Münchner Reihe »Text + Kritik« feiert mit einem Sonderband ihr 60-jähriges Bestehen.

Text + Kritik

Wenn Kritiker Literaturpolitik wagen

text + kritik

Es ist schon länger keine Selbstverständlichkeit mehr, Literatur wirklich ernst zu nehmen, ihr Gewicht zu messen, ihre Intentionen genau abzuwägen und die Magie ihrer Beschaffenheit mit liebevoller Neugierde und Sorgfalt – quasi mit der Uhrmacherlupe als Monokel – zu entflechten. Heinz Ludwig Arnold, einst ein Göttinger Literaturstudent, der sich nebenbei in den Semesterferien als Privatsekretär von Ernst Jünger ein Zubrot verdiente, liebte das Lesen und die Autoren offenbar so sehr, dass er 1962, noch während seines Studiums als gerade mal 22-Jähriger, im Selbstverlag die Zeitschrift »Text + Kritik« gründete. Den ersten Band widmete er Günther Grass. Anfänglich mehr Loseblatt-Werk und Zeitschrift, wurde die Reihe, die sich jeweils monothematisch einer Autorin oder einem Autor (und seit Jahren auch Persönlichkeiten aus Film, Musik und anderen Kunstbereichen) widmet, zur festen Instanz im Buchbetrieb.

Seit dem Band 23 über Nelly Sachs tragen die Text + Kritik-Bände ihre ikonisch gewordene reduzierte Gestaltung und Typografie. Bis zu seinem Tod im Jahr 2011 betreute Arnold die Reihe, die es mittlerweile auf 240 Bände und aktuell eine Sonderausgabe »Außer der Reihe« gebracht hat, als Herausgeber. Seitdem findet der in München ansässige Verlag Edition Text + Kritik – der auch im Bereich Musik und FIlm mit Lexika und Reihen von höchster Qualität aktiv ist – immer wieder aufs Neue ein Herausgeber-Gremium, das dann die jeweils besten Beiträge und Scharfblicke auf Literaten der Gegenwart, gelegentlich aber auch auf zurück ins Rampenlicht geholte Autorinnen und Autoren wie Ernst Toller (Band 223) oder Gabriele Tergit (Band 228) zusammenstellt. Die Bandbreite reicht mittlerweile von Martin Luther bis Daniel Kehlmann. Zu den Beitragenden bislang zählen führende Fachleute, oft aber auch Schriftstellerkollegen wie Wolf Wondratschek, Urs Widmer oder Sven Regner von der Band Element of Crime.

Die Lebendigkeit der Auseinandersetzung – offenbar auch in durchaus kontrovers geführten Redaktionsrunden, die das Entstehen der jeweils neuen Bände begleiten – hat sich von der ersten Stunde an erhalten. Und das Vermächtnis, aber auch die unbekümmerte Freude an der Literatur, für die Heinz Ludwig Arnold steht, gilt es frisch zu halten. An einem »Text + Kritik«-Band mitzuwirken, ist auch heute noch ein Ritterschlag – auch außerhalb der streng akademischen Welt. Wer Beiträge verfasst, hatte und hat »die Chance, über Gegenwartsliteratur jenseits von Literaturkritik, von Geschmacksurteilen, deutlichen politischen Schlagseiten zu schreiben, genauer hinzusehen, spezielle Themen vorzuschlagen, sich in einzelne Texte einzugraben«, sagt Sven Hanuschek, Professor und aktuell Geschäftsführender Referent am Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik und Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität.

Hanuschek hat schon mehrere »Text + Kritik«-Aufsätze beigesteuert. Im Verlag gibt er selbst die Reihen »Die Neo-Avantgarden« und das »Treibhaus-Jahrbuch« heraus. Er sagt über die Reihe, dass sie sich »exakt auf dem Grat zwischen Wissenschaft und Publizistik« bewege – und das »möglichst jargonfrei und für ein Lesepublikum außerhalb des engeren Wissenschaftsbereichs.« Allerdings hat die Arbeit an »Text + Kritik«-Bänden auch oft eine Signalwirkung: »Man betreibt mit diesen Beiträgen immerhin ein bisschen Literaturpolitik, es ist immer noch eine Aufwertung für einen Autor, ein Œuvre, in dieser Reihe gewürdigt zu werden«, so Sven Hanuschek.

Auch für die Redaktions- und Herausgeberteams scheint die Arbeit an den weißen Bändchen mit der kernigen Schwarz-Weiß-Coverfotografie weiterhin oft horizonterweiternd zu wirken, wie auch Axel Ruckaberle bestätigt, der an diversen früheren Ausgaben mitgewirkt hat und nun auch mit hinter dem 60-Jahre-Jubiläumsband steckt. »Der Reiz liegt zum einen darin, mit anderen sehr engagierten Menschen – den Kolleginnen und Kollegen in Redaktion und Verlag, den Literaten, Wissenschaftlern, Kritikern, Veranstaltern und anderen aus dem Literaturbetrieb – zusammenzuarbeiten und Teil dieser großartigen Branche zu sein«, sagt Ruckaberle, der selbst in Göttingen sitzt und über zwei Jahrzehnte hinweg eng mit Heinz Ludwig Arnold zusammengearbeitet hatte. »Gerade auf der Leipziger Buchmesse, wo wir mit einem Text + Kritik-Stand präsent waren, war dies wieder einmaldeutlich zu spüren«, sagt er. Er freut sich, »immer wieder aufs Neue ganz unterschiedliche interessante Schriftstellerinnen und Schriftsteller und deren Werke genauer kennenzulernen und darüber neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu gewinnen.« Ruckaberle muss selbst schmunzeln, als er von einer Postkarte erzählt, die er erst kürzlich von einer Kollegin erhalten hatte. Sie könnte durchaus auch ein Motto für Text + Kritik sein: »Kunst und Kultur können Ihr Weltbild ins Schwanken bringen«, hieß es da.

Eine Geheimformel für die Auswahl der jeweiligen Schwerpunkte gibt es nicht. »Die Autorin bzw. der Autor muss ein interessantes Gesamtwerk haben, das zur Auseinandersetzung herausfordert und eine gewisse Zahl verschiedener Facetten aufweist, denen sich die Beiträge des Bandes widmen können«, sagt Ruckaberle. »Zu den potenziellen Beitragsthemen zählen aber natürlich nicht nur werkinterne Fragen, sondern auch Aspekte wie Poetik, Autorschaftsfragen oder Rezeption. Ob eine Autorin bzw. ein Autor bereits kanonisiert, ob ihre/seine Literatur marktgängig ist, interessiert dabei nicht«, meint der führende Redakteur vieler Bände. »Wir nehmen immer wieder auch die Möglichkeit wahr, auf Außenseiter aufmerksam zu machen oder zur (Wieder-)Entdeckung von Vergessenen beizutragen.«

Und natürlich ist letztlich auch der Austausch mit den Gegenwartsautoren beflügelnd. »Die Autorinnen und Autoren sollen ja in der Regel in den »Text + Kritik«-Heften präsent sein: mit einem noch unveröffentlichten Text oder als Interviewpartner. Da machen sie in der Regel gerne mit«, berichtet Ruckaberle. »Einfluss auf die Konzeption der Bände sollen sie dagegen möglichst nicht nehmen. Wo das im Vorfeld versucht wurde, was selten vorkam, führte das sogar zum Abbruch der Planungen.«

Nun wird also erst mal gefeiert – und dann gleich wieder auf die Zukunft und die nächsten Bände geblickt. Und auch für ein wenig Manöverkritik bietet das Jubiläum Raum. »Mittlerweile gibt es an die 240 Nummern, dazu die vielen Sonderbände, und über so eine weite Strecke kann nicht alles Gold sein, was früher mal geglänzt hat«, bilanziert Sven Hanuschek. »Die Auswahl ist ja immer riskant, da können schon auch Autorinnen und Autoren dabei sein, die beileibe nicht so haltbar sind, wie das einmal schien.« Trotzdem: Für ihn wie für alle interessierte Literaturfreunde bleibt Text + Kritik in den Worten von Sven Hanuschek »eine schöne Spielwiese«. Und auf der tollt man natürlich herum. Auf zum nächsten runden Jubiläum! ||

AUSSER DER REIHE. LITERATUR ZUR ZEIT
Mit Beiträgen u. a. von Ulrike Draesner, Kurt Drawert, Durs Grünbein, Felicitas Hoppe, Thomas Hürlimann, Navid Kermani, Thomas Meinecke, Sevgi Emine Ödzdamar, Christoph Ransmayr, Ingo Schulze, Jan Wagner | Text + Kritik 2023, Sonderband | 117 Seiten | 28 Euro | Website

Weitere Texte zur Litertur finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

Das könnte Sie auch interessieren: